Schritt vor Schritt auf dem Weg zur Schlachtbank. Ich gehe zu Fuß um den Kreislauf richtig anzukurbeln, als ob das in diesem Moment irgendwas Hilfreiches bewirken würde. Es ist früh am Morgen, die Menschen sind zielstrebig unterwegs, auch in dem grünen Vorort mit den Schlachtbänken. Manche stürmen in Businesskleidung voran, andere sind in Kopftücher eingeschminkt und noch andere unter Kapuzen versteckt. Keine schlechte Idee eigentlich, wenn ich mich unter einer Kapuze verkrieche, finde ich dann den Weg nicht oder sieht mich keiner? Es kostet mich schon so viel Energie meine Gedanken einigermaßen im Zaum zu halten . Muss ich da noch über weitere Synonyme für Schlachtbank nachdenken. Schafott? Nein, das passt nicht so gut, da geht es eher um den Kopf. Marie-Antoinette soll sehr gefasst zur Guillotine gegangen sein, was man ihr anscheinend nicht wirklich zugetraut hätte. Mir wiederum traut man nicht zu, dass ich so feig bin. Wenn ich jetzt rechts abbiege und einmal um diesen Häuserblog gehe, dann komme ich fünf bis zehn Minuten später zur Aufnahme. Mache ich doch glatt.
Schritt vor Schritt bin ich nun unweigerlich bei der bürokratischen Anlaufstelle gelandet. Um die zwei Stunden soll es dauern bis man vorbereitet ist für die Filmaufnahmen im Inneren und die anschließenden diagnostischen Abschabungsmaßnahmen. Unendlich lange Formulare, Fragen über Fragen, Untersuchungen, immerhin auch ein paar Informationen und dann warten. Nicht trinken dürfen macht durstig. Nicht zu wissen wie lange, macht noch durstiger. Weiter warten. Niemand weiß, ob der Zeitplan hält, es können ja immer Notfälle dazwischen kommen. Vielleicht muss ich auch Schritt vor Schritt wieder gehen und ein anderes Mal wiederkommen.
Aus meinem Zimmer Aussicht auf alte Bäume, Löwenzahnwiesen und eine Kapelle. „Mein Anwalt, Schneider, Kammerdiener, selbst meine Frau, sollen an Gott glauben. Ich glaube dann nämlich weniger beraubt und betrogen zu werden“ *) soll Voltaire geschrieben haben. Ein sehr unsympathisches Zitat, aber ich kann es gut nachvollziehen. Mit anderen Worten, ich befinde mich in einem Ordenskrankenhaus, einem sehr geschäftstüchtigen, einer Kette mit mehreren Häusern, eines davon eine orthopädische Klinik. Die Mutter Oberin soll selbst ein wichtiger Teil der Geschäftsführung sein. Seelsorge gibt es hier auch, sogar Leute mit schwarzer Seele wie ich dürfen mit sehr netten Freiwilligen plaudern. Ich habe doch auf dem Fragebogen zum Thema Seelsorge „nein“ angekreuzt. Hoffentlich werden hier sonstige Angaben etwas ernster genommen.
Zweimal habe ich schon nachgefragt, ob ich denn pünktlich drankommen werde. Die Schwestern haben freundlichst geantwortet, dass sie das auch nicht wissen und mich dann an eine Flüssigkeitsinfusion gehängt, ich vermute zur Ruhigstellung. Tropf, tropf ….. warten.
Doch, doch, doch, ich komme noch heute an die Reihe, geradezu überpünktlich. Das OP-Hemd, hinten offen, erinnert mich natürlich an ein Totenhemd, ich habe keine Ahnung wie ein Totenhemd aussieht, außer, dass es keine Taschen haben soll. Je nervöser ich bin, desto banaler werden die Assoziationen. 11:23 kommt mich der Bettenschieber abholen. Praktisch ist es, wenn die Kundschaft in diversen Fahrgelegenheiten verschoben werden kann, effizient, hygienisch, na was will man mehr. Wir flutschen durchs Haus durch lange Gänge in das untere Stockwerk mit den OP-Sälen. Die Ärztin wartet schon, vom Anästhesisten keine Spur. Ja, wo ist er denn? Die Ärztin telefoniert. „Der OP-Saal ist leer, die Dame steht schon vor der Tür“ Er ist unterwegs. Meinetwegen hätte er sich ruhig Zeit lassen können. Kalt ist es hier, hoffentlich finden das die zahlreichen hier ansässigen Bakterienstämme auch und wandern in wärmere Gefilde ab, möglichst bevor sie mich wahrgenommen haben.
Ich darf mich selbst auf die Schlachtbank legen, weil ja in der Dokumentation steht, dass meine Lendenwirbelsäule etwas angeschlagen ist, und das künstliche Hüftgelenk obendrein … Zum Glück warten wir auf den Anästhesisten und nicht auf Dr. Frankenstein. Schon wieder so ein blöder Gedanke! Ich werde angeschlossen an diverse Geräte, die ich alle nicht sehen kann, ich will sie eh nicht sehen, zugedeckt, nur die zu bearbeitenden Eingänge bleiben frei, die Arme müssen zur Seite ausgestreckt werden. Nachdem hier überall Kreuze herumhängen ist meine Assoziation dazu unpassend aber fast unvermeidlich. Schließlich, der Anästhesist ist eingetroffen und hat sich sogar vorgestellt, stülpt mir jemand ein Sauerstoffgerät übers Gesicht. Reine Ablenkungstaktik, denn die Narkoseflüssigkeit kommt über den Zugang am weit ausgestreckten Arm. „Spüren Sie schon was?“
„Die OP ist schon vorbei“ sagt jemand von rechts. Die Uhr behauptet, es wäre eine halbe Stunde vergangen. Sie wird schon recht haben. .
*) zitiert nach Yuval Noah Harari „Sapiens“ Penguin Verlag S 141
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