Kategorie: BÜCHER

81. Station meiner Literaturweltreise – Argentinien

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Zuerst dachte ich „oje, da habe ich schwer daneben gegriffen, das ist irgendein öder Krimi, in dem hauptsächlich geschossen wird.“ Nachdem ich aber wieder einmal spanisch lesen wollte, habe ich das Buch dann doch nicht gleich weggelegt und das war eine ganz gute Entscheidung.

Es ist wohl ein Schieß-Krimi, aber er hat auch noch andere Aspekte. Zunächst die Sprache: argentinisch ist, sowohl was das Vokabular betrifft als auch in der Grammatik ziemlich weit weg vom europäischen Spanisch und so fand ich es recht interessant zu ergründen, wie zum Beispiel der Imperativ im Argentinischen funktioniert. Eine breite Palette argentinischer Schimpfwörter kam in den Dialogen so oft vor, dass ich sie mir mühelos gemerkt habe, ebenso wie ein paar andere interessante Wendungen und Vokabel.

Absolut spannend fand ich auch, wie im Argentinischen die Du-Form verwendet wird. Dass in allen südamerikanischen Ländern die 2. Person Plural, das „ihr“ nicht existiert sondern durch die 3.Person Plural ersetzt wird, ist ja nicht weiter schwierig, aber was man in Argentinien und einigen anderen Ländern aus der 2. Person Singular gemacht hat! Statt „tu eres“ heißt es „vos sos“, statt „tu tienes“ „vos tenés“ …

Abgesehen von der Sprache fand ich auch die beschriebenen gesellschaftlichen Verhältnisse spannend: extreme Korruption, extremer Machismo und Homophobie und eine schweigende Mehrheit. Sogar die beiden absoluten Saubermänner der Geschichte finden gar nichts dabei in ihren Kommissariaten ganz offene Zahlungsaufforderungen an Polizeigefangene zu richten um sie früher zu entlassen; das wäre eben einfach so üblich. Eine NGO, die sich offiziell um Transsexuelle Prostituierte kümmert, entpuppt sich als Menschenhandelsorganisation ohne dass dies irgendjemanden besonders erstaunt. Die Anzahl der korrupten Angehörigen der Nomenclatura, die sich als homo- oder bisexuell herausstellten, war dann zahlenmäßig doch etwas übertrieben. Viele Details am Rande und auch die Haupthandlung machen aus dem Buch ein ziemlich schockierendes Sittenbild der argentinischen Gesellschaft.

Die Personen sind nicht besonders vielschichtig, gehören zu 99% entweder zu den „Guten“ oder zu den „Bösen“ trotzdem fand ich die Charaktere und auch manche Dialoge recht interessant und auch die Haupthandlung gewann im Laufe der Geschehnisse an Komplexität.

Also nicht gerade ein überwältigendes Buch, aber auch kein ganz schlechtes.

80. Station meiner Literatur- und Kunstreise – Spanien 2

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Maria Hesse
„Lust“
Heyne Verlag : 2019

Es ist ein nettes Bilderbuch, mit ansprechenden Illustrationen, einigen Anekdoten und auch durchaus Wissenswertem zum Thema weibliche Sexualität. Es werden ein paar literarische und ein paar historische Quellen angezapft, erzählt wird immer in einem leichten Ton und auch die Illustrationen, die rein dekorativen und auch jene zur weiblichen Anatomie bleiben in Maria Hesses Stil im Blümchen-Sternchen-Bereich, was ich wohlgemerkt nicht abwertend meine.

Den Klappentext, der besagt, dass es sich um ein „einzigartiges und zugleich universelles Buch“ handelt, finde ich doch etwas übertrieben, wenn das Thema „Lust“ auch recht umfassend besprochen wird und die Beiträge der Autorin recht persönlich und intim sind.

In leicht ironischem Ton wird die christliche Position zu weiblicher Sexualität geschildert. Mir persönlich wären etwas härtere Worte zu diesem Thema passender erschienen, wenn man bedenkt, was die Kirche im Laufe der Jahrhunderte Frauen angetan hat, einfach nur weil sie Frauen waren. Aber „Lust“ ist kein sozialkritisches Buch. Die Zielgruppe sind wohl am ehesten sehr junge Mädchen und Frauen oder Frauen, die aus welchen Gründen auch immer wenig von ihrer eigenen Sexualität wissen.

Maria Hesse wurde 1982 im spanischen Huelva geboren. Sie studierte Sonderpädagogik und Kunst und hat es als Illustratorin zu einiger Bekanntheit gebracht. Ich habe mich schon etwas gewundert, dass es im Spanien der 1990er-Jahre noch gar so prüde hergegangen sein soll, wie die Autorin erzählt, aber das ist ein persönlicher Eindruck, den man nicht in Frage stellen kann.

Ein Buch mit dem man einen angenehmen Halbtag verbringen und durchaus auch das eine oder andere Neue erfahren kann.

78. Station meiner Literatur- und Kunstweltreise – Malaysia

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Aus Afrika ein kleiner Lese- Abstecher in eine ganz andere Weltgegend.

Tash Aw
„Wir, die Überlebenden“

Luchterhand Verlag 2022
Aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda,

Zunächst musste ich mich orientieren. Einmal geografisch und dann allgemein über Malaysia und seine Gesellschaft. Dabei habe ich bei Diwan, das Büchermagazin von Bayern 2 ein Interview mit dem Autor gefunden, von dem ich hier einen kleinen Teil wiedergeben möchte.

Wir alle – im Westen wie auch in Asien – lieben es so sehr, an die große Illusion vom Wohlstand zu glauben. Wir sind auf gewisse Weise besessen von der Vorstellung eines glitzernden Asiens: Binnen kürzester Zeit sind Entwicklungsländer zu hochmodernen Staaten geworden. Und ich wollte die Realität zeigen: Für 95 Prozent der Menschen trifft das nicht zu.

Die Kosten dieser Entwicklung sind offensichtlich: die Natur wird zerstört. Ebenso gründen die asiatischen Wirtschaften darauf, umgehend den Konsumbedarf westlicher Kunden zu befriedigen. Die Meerestierfarmen, die Plastik-Produktion – alles dient den Verbrauchern in der westlichen Welt. Die wenigsten sehen diese Zusammenhänge.(…)

Und auch die Menschen in Asien wollen das nicht wahrhaben. Denn wenn wir sagen, dass stimmt, müssen wir eingestehen, dass wir so viel geopfert haben. Aber für was? Das gilt auch mit Blick auf politische Fragen. Die Menschen haben auf so viele politische Rechte verzichtet – das Recht zu protestieren, das Recht frei zu wählen, das Recht auf gleichberechtigte Lebensumstände. Man hat ihnen erzählt: „Ihr könnt nicht beides haben – Geld und soziale Gleichheit. Das geht nur eines nach dem anderen.“ Fragt man arme Menschen, was ihnen wichtiger ist, dann wählen sie die materiellen Annehmlichkeiten: einen sicheren Job, die Aussicht auf Geld und auch auf Weiterbildung. Aber in einer langen Perspektive brauchen sie auch die Möglichkeit, eine Wahl zu haben, politisch und persönlich.
Diwan, das Büchermagazin von Bayern 2

Tash Aw erzählt die Lebensgeschichte von Ah Hock, einem chinesischstämmigen Malaien aus einem Fischerdorf, in das die Generation seiner Großeltern aus China eingewandert ist. Er schlägt sich mit verschiedensten Jobs mehr schlecht als recht durch in einer armen Gesellschaftsschicht, die ein paar Zentimeter über den Gruppen von Wanderarbeitern und Einwanderern aus China, Indien, Bangladesh und anderswo liegt.

Einer seiner Kindheitsfreunde, mit dem er als junger Mann nach Kuala Lumpur gegangen ist, nimmt den Weg in die Kleinkriminalität, bleibt aber nur Handlanger mit einem Fuss in der Armut, mit dem anderen im Gefängnis. Ah Hock selbst hangelt sich von einem schlechten Job zum nächsten. Auf einer Fischfarm findet er ein relativ gutes Auskommen, heiratet eine Frau, die Geschäfte mit Kosmetikprodukten betreibt, führt ein gutes Leben.

Die Fischfarm auf der Ah Hock so etwas wie ein Verwalter ist, läuft gut. Der Besitzer verreist und überlässt Ah Hock die Aufsicht. Das Unglück nimmt seinen Lauf: zuerst einige, dann alle Farmarbeiter, die in allzu engen, allzu unhygienischen Verhältnissen hausen, erkranken an Cholera und können nicht mehr arbeiten. Ah Hock sucht verzweifelt nach anderen Arbeitern, die er um möglichst wenig Lohn beschäftigen könnte. Er wendet sich an seinen ehemaligen Freund, mit dem er eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte, der ihm sofortige Hilfe verspricht und ihn mit Leuten bekannt macht, die Geschäfte machen, die man gut Menschenhandel nennen könnte. Die Schilderung der verflochtenen Bereiche der Ausbeutung ist sehr aufschlussreich. Immer wieder fasst Ah Hock Hoffnung nun doch Arbeiter zu finden, fährt über verschlungene Dschungelpfade und verlassene Elendscamps, aber immer wieder erweisen sich die Verbindungen seines Freunds nicht nur als kriminell sondern auch als völlig unzuverlässig. Ah Hocks Verzweiflung wird immer größer, denn an dem Auftreiben von Arbeitern hängt seine eigene Existenz. Das erfolglose Irren durch die Vororte Kuala Lumpurs von einem Verbindungsmann zum nächsten, endet schließlich damit, dass Ah Hock einen Mord begeht.

Eine kleine Kostprobe:

„Ich weiß nicht mehr, wann ich damals begann, Formen und Muster zu erkennen, die noch kurz zuvor von der Dunkelheit verschluckt gewesen waren. Keongs Gesicht war vor Wut verzerrt, tiefe Furchen umgaben Mund und Augen. Wie er gealtert war. Und ich hörte auch jedes Geräusch – ihre unterschiedliche Art zu atmen: Keong kurz, schwer, am Ende der Sätze nach Luft schnappend oder nach einem Fluch drei-, viermal hintereinander heftig keuchend. Ashadul dagegen langsam und röchelnd, als wäre seine Lunge mit einer Schicht von Teer und Schleim belegt. Der typische Raucherhusten, der seiner Brust entstieg. Die ausdruckslose Stimme als Gegenstück zu Keongs Hysterie. Das alles nahm ich klar und deutlich wahr.“ S396

Der Autor, Tash Aw wurde als Kind malaysischer Eltern 1971 in Taiwan geboren und wuchs in Kuala Lumpur auf. Er studierte Jura in Großbritannien, veröffentlichte mehrere Romane und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Commonwealth Writers’ Prize und dem Whitbread First Novel Award, und zweimal für den Man Booker Prize nominiert. Sein Werk ist in 23 Sprachen übersetzt. Tash Aw lebt vorwiegend in der Provence und kommentiert u. a. für die »New York Times« und die BBC Kultur und Politik im südostasiatischen Raum.

Interessant an dem Buch fand auch auch seinen zeitlichen Aufbau. Die Erzählung – in Rückblenden – beginnt zu dem Zeitpunkt als Ah Hock seine Haftstrafe beendet hat. Er erzählt seine Geschichte nicht den Leser*innen sondern der Soziologin Su-Min, die ein Buch über ihn schreiben möchte.

„Mir ist klar, dass ich mich mehr zusammennehmen und eine nette Geschichte erzählen sollte, aber am Ende tue ich genau das Gegenteil. Ich erzähle ihr jedes einzelne schreckliche Detail, ich kann mich einfach nicht beherrschen. Halt dich zurück, halt dich zurück sage ich mir, aber dann platzt alles aus mir heraus, in einem gewaltigen Wortschwall. (…)Als ich ihr heute die Geschichte von den Arbeitern aus Bangladesh erzählte, hatte ich sie mir zuvor genau zurechtgelegt. Es war eine sehr harte Reise gewesen, Menschen waren gestorben. Trotzdem erzählte ich ihr dann genau das, was ich von dem ausländischen Hilfsarbeiter erfuhr, den ich getroffen hatte. Wie die Menschenschmuggler *) seiner toten Frau den Bauch aufschlitzten, damit die Leiche sich nicht aufblähte wie ein Ballon und auf dem Wasser trieb, nachdem sie sie über Bord geworfen hatten. Von den Migranten, die völlig entkräftet waren und trotzdem Gräber ausheben mussten.Ihre eigenen Gräber. Damit die Schmuggler sie hineinwerfen konnten, wenn sie am Ende starben. Keine Kraft mehr, um zu kämpfen, nur noch, um zu sterben. Von Menschen die zusehen mussten, wie sie Wundbrand bekamen, und das Gefühl hatten, dass ein Tier an ihren Beinen nagte.“ S 381
*) „Menschenschmuggler“ wäre meiner Meinung nach mit „Schlepper“ besser übersetzt.

Das Buch endet mit der Party aus Anlass der Veröffentlichung des Buchs. Was danach aus dem Protagonisten wird, erfahren wir nicht.

Die Beschreibung wird ein bisschen lang, aber ich fand die Überlegungen von Tash Aw zum Thema Literatur so interessant, dass sie hier noch hineinmüssen.

Die Kraft der Literatur besteht aus meiner Sicht darin, dass sie uns dazu bringt, uns mit Menschenleben auseinanderzusetzen, von denen wir sonst nichts wissen würden. Die Literatur beschäftigt uns, in dem Sinn, dass es ungemütlich wird, dass wir Dinge akzeptieren müssen, die nicht angenehm sind. In vielen Fällen ist es vorhersehbar, warum wir uns mit Literatur beschäftigen. Die meisten Menschen lesen von Schicksalen, die im Grunde ihre eigenen sind. Und das auf eine Weise, bei der wir uns wohlfühlen. Der größte Teil der Literatur ist eine Selbstreflexion von Angehörigen der Mittelklassen. Wir wollen uns gut fühlen. Und die Literatur scheint das zu ermöglichen.

Ich habe ein anderes Verständnis. Die Schriftsteller, die ich schätze, haben uns in die Lage gebracht, dass es unangenehm wird. Sie haben uns mit Dingen konfrontiert, die wir ablehnen. Wenn Menschen in Europa über Asien nachdenken, wollen sie ermutigt werden – sie wollen tröstliche Visionen lesen, sich erfreuen an der Güte, an der Exotik und an der Schönheit Asiens. Manchmal wollen sie auch von der Armut erfahren – aber auf eine Weise, die nicht wehtut. Ich will die Realität zeigen. Nicht nur für die Menschen im Westen, sondern ebenso für die in Asien. Sie sollen in die Lage kommen, über ihr Leben nachzudenken Diwan, das Büchermagazin von Bayern 2

Dass es eine gute Idee ist, die Veröffentlichungen des Luchterhand Verlags im Auge zu behalten, habe ich ja schon oft geschrieben.

77. Station meiner Literatur- und Kunstweltreise – Rwanda und Burundi

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Schon vor einer Weile habe ich dieses Buch fertig gelesen. Ich hatte es zwischen die chassidischen Juden in Brooklyn und die neuesten Forschungsergebnisse über Neandertaler eingeschoben, weil ich sehr neugierig war.

Die Ich-Erzählerin ist eine Tutsi aus Rwanda, die schon als Jugendliche oder junge Erwachsene als Asylantin im Nachbarland Burundi lebt und dort eine Schule für Sozialarbeiterinnen besucht. Ihr Vater meint, wohl zurecht, dass eine Tutsi in Burundi nur über Schulbesuch, Bildung und den Erwerb eines Diploms überhaupt überleben kann und so finden wir zu Beginn der Erzählung die Protagonistin als eine von vielen Flüchtlingen aus Rwanda in Burundi.

Eine Kurzbiographie von Scholastique Mukasonga aus der für solche Zwecke unerreichten Wikipedia:


Mukasonga wurde 1956 in der damaligen Provinz Gikongoro in eine Tutsifamilie geboren. Sie musste schon in ihrer Kindheit die Gewalt und Demütigungen des ethnischen Konflikts in Ruanda erfahren. 1960 wurde ihre Familie mit anderen Tutsi nach Nyamata deportiert. Bevor sie 1973 nach Burundi ins Exil vertrieben wurde, ging sie ins Lycée Notre-Dame de Citeaux in Kigali, wo sie im Rahmen der Quote von 10 % für Tutsi aufgenommen wurde, und in eine Schule für Sozialarbeit in Kigali. Ihre Erlebnisse im Lycée spiegeln sich im Buch Die Heilige Jungfrau vom Nil. In Burundi schloss Mukasonga ihre Ausbildung zur Sozialarbeiterin ab und arbeitete dann für die UNICEF und die Weltbank. Sie heiratete einen Franzosen, ging mit ihm nach Dschibuti und 1992 nach Frankreich.[1] Ihre Zeit in Burundi, Dschibuti und den Beginn ihres Lebens in Frankreich schildert sie in dem autobiographischen Roman Un si beau diplôme! Sie lebt heute mit ihrer Familie in der Normandie. Ein Großteil ihrer Familie fiel dem Völkermord in Ruanda 1994 zum Opfer.

Vieles an diesem Roman, der eigentlich kein Roman ist sondern eine Art stark verlängerte Kurzgeschichte, hat mir zunächst nicht gefallen. Alle Figuren sind unglaublich flach, sie werden nur kurz aus den Schatten herausgeholt um ein paar Sätze über sie zu sagen, dann verschwinden sie wieder. Die einzige Ausnahme ist vielleicht der Vater. Die Mutter und die Geschwister ebenso wie der Ehemann und die Kinder, andere Verwandte, Freundinnen, sonstige Menschen, die in ihrem Leben vorkommen, bleiben unscharf umrissene Schatten. Dennoch habe ich den Text gern gelesen.

Es gibt nur einen Erzählstrang. die Geschichte der Ich-Erzählerin und ihres Diploms, das eine Art Leitmotiv ist, das im Laufe der Geschehnisse durch ein weiteres Diplom verstärkt wird. Die Handlung beginnt in ihrer Zeit als Schülerin in Burundi, überspringt dann sehr viel, setzt bei ihrem Leben in Frankreich und Dschibuti wieder ein und kommt schließlich zum emotionalen Höhepunkt der Erzählung: ihr(e) Besuch(e) in ihrem Heimatort in Rwanda nach dem Genozid, nachdem praktisch ihre ganze Familie und ihre Freunde ermordet wurden.

Der in ein Genozid mündende Konflikt zwischen Tutsis und Hutus war das Thema, das ich in diesem Buch erwartet habe und das natürlich auch vorhanden ist. Es wird aber auf eine sehr leise Art erzählt, in manchen kleinen Szenen und Nebensätzen bis es am Ende des Buchs gewaltig aufsteigt.

Das Buch beginnt mit dem Thema Diplom

„J´ai passé la moitié de ma vie à courir aprés un diplôme. Ce n´était pourtant pas une thèse de doctorat (…) mas un modeste diplôme d´assistante sociale“ p. 11″
Ich habe die Hälfte meines Lebens damit verbracht einem Diplom nachzujagen, nicht einem Doktorat sondern einem bescheidenen Abschluss zur Sozialarbeiterin.

Die Autorin erzählt, dass sie als Kind in der Schule täglich ein vom Lehrer verfasstes Lied singen musste, in welchem ein gewisser Fidèle Rwambuka geehrt wurde, ein lokaler Held, der als erster Einwohner seiner Ortschaft ein Diplom erworben hatte. Der Text des Liedes (in freier Übersetzung wie alle Textstellen) :

Fidèle Rwambuka!
Seien wir stolz auf ihn!
Feiern wir seinen Heldenmut!
Das schöne Diplom (idipolomi), er hat es in Gisaka erworben
und mit nachhause gebracht
Er ist der Sohn von Mihigo
er ist hier geboren, er ist von hier, aus Musenyi
Hurra, hurra, hurra
Sei unser Held für immer.

Aufgrund dieses Diploms – niemand weiß, um welche Art Diplom es sich da handelt- wird Fidèle Rwambuka Bürgermeister.
Die Autorin erzählt, wie stolz sie als Kind dieses Loblied gesungen hat, aber …

„Comment aurais-je imaginé qu´en1992 il serait le premier à organiser le massacre des Tutsis de Nyamata, prélude au génocide de 1994“ p.12 (Wie hätte ich ahnen können, dass er (Fidèle Rwambuka) 1992 der erste sein würde, der das Massaker der Tutsis in Nyamata organisierte, das Vorspiel zum Völkermord von 1994!

Nur in Nebensätzen erfahren wir doch einiges über das Genozid und die vorangegangene Situation in Rwuanda und Burundi. Zum Beispiel, dass auf den Personalausweisen TUTSI stand, wodurch für die Besitzer dieser Ausweise im besten Fall nur viele Türen verschlossen blieben.

Der Stil der Autorin ist, im Großen und Ganzen eher kühl und unemotional. Die Ausnahme ist ein sehr starkes Kapitel in dem beschrieben wird, wie die Erzählerin Jahre nach dem Massaker in ihren Ort, Nyamata zurückkommt. Sie sucht die Parzelle auf der das Haus ihrer Eltern stand und den Standplatz ihres Vaters auf einem Markt.

Kanzenze, cétait le nom que les autorités avaient attribué à Nyamata. Un témoin disait au journaliste "À Kanzenze les vivants sont le dixième des morts". Cela signifiait, traduisait le journaliste, que neuf personnes sur dix avaient été tuées. À la fin du mois de juin, une lettre m´apprendrait qu`à Gitagata c´était dix sur dix. p.169
(Kanzenze war der Name, den die Behörden Nyamata gegeben hatten. Ein Zeuge sagte zu einem Journalisten „In Kanzenze sind die Lebenden ein Zentel der Toten“ Was bedeutete, so übersetzte der Journalist, dass neun von zehn Menschen getötet worden waren. Ende Juni sollte ich einen Brief erhalten, der mir mitteilte, dass es in Gitagata zehn von zehn waren.“

Man erfährt, dass die Erzählerin mit einem in Rwanda lebenden und arbeitenden Franzosen verheiratet ist und mit ihm mindestens zwei Kinder hat. Auch das wäre ein interessantes Thema gewesen, wird aber zumindest in diesem Buch nicht verfolgt. Eine einzige Szene beschäftigt sich mit den Kindern. Die Autorin schreibt, dass ihre Kinder schließlich auch Tutsis seien und somit Anspruch hätten auf die besonders gute Milch der Rinderherden des Volks der Tutsis. Aus diesem Grund fährt sie mit ihrem Mann immer wieder illegal nachts über die Grenze nach Burundi zu einem der wenigen noch vorhandenen Tutsi-Rinderhirten und kauft bei ihm frische Milch. Der Freundeskreis des Paars findet diese Ausflüge geradezu selbstmörderisch gefährlich, findet aber kein Gehör.

Es gibt auch noch andere Abschnitte, die mich beeindruckt haben. Etwa die eher witzige Erzählung über die Ferienzeit, die die Autorin gemeinsam mit einer Freundin bei deren Bruder verbracht hat, der so eine Art Mädchen für alles bei einer europäischen Dame ist. Oder auch die Erzählung davon, wie in Frankreich ihr hochgeschätztes Diplom nicht anerkannt wird und sie nach zahlreichen Besuchen bei Behörden und Beratungsstellen erkennt, dass ihr nichts anderes übrig bleibt als die Sozialarbeiter-Ausbildung nochmals zu machen.

Dieses Buch ist für mich die Fortsetzung einer Reihe von Texten von afrikanischen Autor*innen, die ich – immer mit Dazwischenschalten anderer Lektüre- konsumieren werde.

76. Station meiner Kunst- und Literaturweltreise – Côte d´Ivoire (Elfenbeinküste)

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Es gibt unendlich seichte Comics und es gibt auch andere. Man denke an Persépolis von Marjane Satrapi, Comics aus denen man sehr viel über das Leben im Iran erfährt. Man kann sich auch mit Astérix und Obélix ins alte Gallien bzw ins Römische Reich begeben und das Comic, das ich gerade gelesen habe, spielt in Yopougon, einem Arbeiterbezirk von Abidjan, der Hauptstadt der Elfenbeinküste im Jahr 1978. Es ist keineswegs seicht sondern zeigt die gesellschaftlichen Strukturen der Elfenbeinküste aus dem Blickwinkel einer jungen Frau.

Im Grunde ist Comic eine ganz unpassende Bezeichnung für gezeichnete Geschichten dieser Art. Die französische Bezeichnung „bandes déssinées“ finde ich viel passender.

Wir sind also im Jahr 1978 und im Fernsehen der Elfenbeinküste läuft die erste große Werbekampagne. Es handelt sich um das im Land produzierte Bier, Solibra, das heftig beworben wird. Der Vater der Protagonistin, Aya, arbeitet für den Brauereibesitzer. Täglich um 19h läuft die Bierwerbung und die gesamte Familie und Nachbarschaft muss sich vor dem Fernseher versammeln.

Die ebenso paternalistische wie patriarchale Gesellschaftsstruktur der Elfenbeinküste wird recht gekonnt aufs Korn genommen. Die Diktatur des Vaters, die in den Familien herrscht und von der vor allem die jungen Frauen betroffen sind ebenso wie die Diktatur des allmächtigen Großbrauereibesitzers.

Hier sieht man einen Vater, der wie jeden Tag im Vollrausch nachhause kommt und, ebenfalls wie jeden Tag, die Anwesenheit aller seiner Kinder bzw Töchter kontrolliert. Zu diesem Zweck zählt er ihre Füße. Wie man sich leicht vorstellen kann, ist diese Kontrollmethode, wie auch andere, sehr leicht zu umgehen und tatsächlich treffen sich die Generationen in den diversen Tanz- und Trinklokalen. Es ist nicht selten, dass eine Tochter ihren Vater oder Onkel mit einer ihrer Freundinnen beim Tanzen antrifft.

Die Protagonistin, Aya, die gerne studieren möchte, was ihr Vater aber ablehnt, weil er die Investition in das Studium für eine Tochter für unnötig verprasstes Geld hält, soll nun verheiratet werden. Nicht mit irgendjemandem sondern mit dem Sohn des Großbrauerei-Besitzers für den ihr Vater arbeitet. Hier sieht man das Haus des Chefs, das gerade besichtigt wird. Aber es kommt alles anders als geplant.

Auch die Leben der Freundinnen von Aya werden erzählt. Was ich sehr interessant fand, sind die Wortschöpfungen, die im Französisch der Elfenbeinküste verwendet werden. Ein „génito“ zum Beispiel ist ein junger Mann mit Geld. Der „maquis“, der im europäischen Französisch den Aufenthaltsort von Guerilla-Kämpfern bezeichnet, ist an der Elfenbeinküste ein billiges Ess- und Tanzlokal im Freien. Als „gardienne“, Wärterin, bezeichnet man eine verheiratete Frau. Ich finde, dass schon allein diese drei Wörter viel über die Gesellschaft aussagen.

Am Ende des Bandes gibt es noch Ratschläge zum richtigen Schwingen von Hüften und Po und Rezepte für Speis´ und Trank.

Von „Aya de Yopougon“ gibt es sechs Bände, der erste von 2005, der sechste von 2010. Die Geschichte wurde in 15 Sprachen übersetzt und der Stoff verfilmt.

Ich weiß noch nicht, ob ich mir die weiteren Bände auch zulegen werde. Dieser war sehr aufschlussreich und witzig, auch gut gezeichnet…

In sich geschlossen – eine chassidische Gemeinde mitten in New York

Begonnen habe ich mit Akiva Weingartens Buch „Ultraorthodox“. Er beschreibt darin wie er in der Gemeinschaft der Satmarer Chassiden aufwächst, mitten in Brooklyn und doch völlig isoliert von der Umgebung.

„In der Welt, in der ich aufgewachsen bin, gibt es hohe Mauern und harte Grenzen. Sie sind nicht sichtbar wie Mauern aus Stein oder Zäune aus Stahl, darum aber nicht weniger undurchlässig. Es sind Grenzen des Geistes und der Begriffe. Mauern hinter denen eine ganz bestimmte Weise gepflegt wird, die Welt zu sehen und sie zu deuten. Innerhalb dieser Mauern wohnen wir. Außerhalb leben die anderen.
Wir, das sind die Chassidim, die Gottesfürchtigen. Die 365 Verbote und 248 Gebote, die der Ewige den Menschen in der Torah, den fünf Büchern der hebräischen Bibel, gab, und die unzähligen Weisungen, die Moshe in der Mischna und dem Talmud, der mündlichen Torah von Gott am Berg Sinai erhielt, geben unserem Leben Orientierung. Sinn unserer Existenz ist es, diese Mizwot zu erfüllen; sie so in unserem Leben zu verwirklichen, dass zwischen unserem Tun und Gottes Willen kein Unterschied mehr ist“ S17

Weingarten beschreibt seine Welt, in der alles und jedes genauestens geregelt ist. Wobei es nicht zu den geringsten Schwierigkeiten gehört, den richtigen Umgang mit Dingen und Situationen zu klären, die es vor 5000 Jahren eben noch nicht gab.

„Auch wenn die Satmarer eine Gemeinschaft sind, gibt es streng genommen in ihr zwei Welten: die der Frauen und die der Männer“ S 80

Weingarten beschreibt seine Pubertät, das langsame Erwachsenwerden und wie er beginnt mit so manchen Geboten und Verboten in der Begegnung zwischen den Geschlechtern nicht nur zu hadern sondern sie gelegentlich auch zu ignorieren. Er wird – wie es üblich ist – sehr jung mit einem von der Familie ausgesuchten Mädchen verheiratet. Der Autor ist sehr unsicher darüber, ob die ihm zugedachte Frau zu ihm passt und konsultiert dazu einen Rabbiner:
„Er schwieg eine Weile, strich sich über seinen grauen Bart, und wirkte, als würde er seine Antwort sorgfältig abwägen. Umso mehr überraschte mich diese dann: „es gibt nicht viele Dinge, die eine Frau wissen muss, aber zwei Sachen sind unentbehrlich. Sie muss wissen, wenn sie auf der Straße geht und es plötzlich zu regnen anfängt, dass sie sich unterstellt, dass ihre Perücke nicht nass wird. Und sie muss wissen, dass, wenn man ein Ei in der Pfanne brät, der Stiel nicht so über die Herdkante hinaussteht , dass sie die Pfanne im Vorbeigehen vom Herd herunterreißen kann. Diese zwei Sachen muss die Frau wissen, mehr nicht.“ S114
Man verzeihe mir, dass meine kühle, objektive Betrachtung des Themas bei diesem Beispiel rabbinischer Weisheit etwas ins Wanken geraten ist.

Die Ehe geht von allem Anfang an schief, dennoch bekommen die beiden drei Kinder. Doch im Lauf der Zeit zweifelt Akiva Weingarten immer mehr. Nicht nur an den Fundamenten, auf die sein unglückliches Leben aufgebaut ist sondern auch an seiner Religion an sich, an seinem Gott.
„Aber kann das sein? Hat Gott uns erwählt und alle anderen verworfen? Was ist das für ein Gott, der den größten Teil der Menschheit der Hölle preisgibt, ohne dass sie auch nur die geringste Chance haben, daran etwas zu ändern, weil sie die Weisungen Gottes niemals kennenlernen können? Und was ist das für ein Gott, der die, die angeblich auserwählt sind, mit diesen Weisungen so sehr peinigt, dass das schlechte Gewissen ihr ständiger Begleiter ist, dass wer leben will, fast schon zur Heuchelei gezwungen ist. Was ist das für ein Gott? Gibt es ihn überhaupt? Gibt es diesen einen Gott, dem sich alle zu beugen haben, überhaupt?“ S173

Kurz zusammengefasst: Akiva Weingarten bricht aus der chassidischen Gemeinde aus und geht nach Berlin um dort zu studieren. Seine Zweifel beschränken sich aber schließlich auf die starren Gebote und Verbote der ultraorthodoxen Gemeinde. Er findet wieder zu seiner jüdischen Identität, arbeitet als Rabbiner und befasst sich besonders mit anderen Menschen, die auch chassidische Gemeinden verlassen haben.

Insgesamt fand ich den Einblick in diese Gemeinde faszinierend. Allerdings großteils im negativen Sinn, denn nicht nur die Art wie Frauen behandelt werden, fand ich abstoßend. Auch der beträchtliche Rassismus, der darin zum Ausdruck kommt, dass Nicht-Juden nicht einmal eine Seele zugestanden wird. Nur Mitglieder des auserwählten Volks tragen in sich einen göttlichen Funken, der es ihnen ermöglicht, zu gegebener Zeit ins Paradies einzuziehen. Daher werden auch Konvertiten niemals wirklich vollwertig in die Gemeinschaft aufgenommen.

Anschließend habe ich Deborah Feldmans „Unorthodox“ gelesen und bin dabei, die Fortsetzung davon, „Überbitten“ zu lesen. In diesen Büchern wird das Leben in derselben chassidischen Gemeinde beschrieben, aus der Sicht einer Frau. Es werden noch viel mehr Dinge angesprochen und erzählt, die mich richtiggehend schockiert haben. Etwa die Meinung, dass Gott die „anderen Völker“ nur geschaffen habe, um die Juden zu quälen und dass deren Leiden Gott gnädig stimmen und die Welt am Laufen halten soll. Auch Hitler hätte es nur deswegen gegeben, weil das auserwählte Volk nicht ausreichend gläubig und gehorsam gewesen wäre. Hitlers Genozid wäre somit eine wohlverdiente Strafe, die das jüdische Volk getroffen habe. Die vielen Kinder, die in ultraorthodoxen Familien geboren werden, sollen nun die Toten des Holocaust ausgleichen. Das ist schon schwere Kost!

Es ist ein erschreckender Blick hinter die Kulissen dieser Welt. Deborah Feldmann hat allerdings einen ebenso empathischen wie analytischen Blick auf viele Verhaltensweisen, der manchmal Ärger und Erstaunen in Verständnis verwandeln kann.

Es liegt mir noch daran zu betonen, dass die Welt der Ultraorthodoxen eine fanatische ist, die mit der Welt des Judentums insgesamt nicht gleichgesetzt werden kann. Der Staat Israel selbst hat jede Menge Probleme mit den chassidischen Gemeinschaften, die zwar großteils vom Staat erhalten werden, diesen aber nicht anerkennen. Die Ultraorthodoxen stehen auf dem Standpunkt, dass sie durch intensives Studium der Thora und die dadurch entstehende Verbindung zu Gott, Entscheidendes zum Wohlergehen ihrer Landsleute beitragen.

Burundi – 72.Station meiner Literatur- und Kunstweltreise

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Ich wollte ein Buch über Burundi lesen. In diesem Buch geht es am Rande auch um Burundi, aber eigentlich auch wieder nicht, denn das Land wird nur als Ausgangspunkt für Betrachtungen über Diverses benützt.

Es könnte ein interessantes Buch sein, hätte es einen roten Faden und wäre es so geschrieben, dass man diesen roten Faden als Leser*in auch entdecken kann. Der Aufbau des Textes ist kaum durchschaubar, die Handlung zerhackt und die Sprache mühsam zu lesen. Ich fand es schwierig, mich zu motivieren immer wieder noch ein Stück weiter zu lesen.

Einige Stellen fand ich durchaus eindrucksvoll, etwa die Bilder von afrikanischen Flüchtlingscamps. Insgesamt war aber der Aufbau des Texts verwirrend und die Erzählung streckenweise langweilig. Ich habe nur bis etwa zur Hälfte und dann die letzten Seiten gelesen. Es könnte also sein, dass mir einiges entgangen ist. Ich habe die Gewohnheit ein Buch, das ich begonnen habe auch dann fertig zu lesen, wenn es mir nicht besonders gefällt. Bei diesem Buch hatte ich dazu einfach keine Motivation.

Die Protagonistin ist eine UNO-Angestellte, die abwechselnd in zeitlich schwer sortierbaren kurzen Abschnitten von ihrem Leben berichtet und über philosophische Fragen sinniert ohne zu klaren Aussagen zu kommen. Das zweite große Thema ist die UNO. Es hat mich sehr gestört, dass die Leserschaft nirgends darüber informiert wird, ob die Autorin die Kenntnisse und Erfahrungen über die sie verfügen muss um aus einer Insiderposition über die UNO zu schreiben überhaupt hat.

In die ohnehin schon beträchtliche Verwirrung ist auch noch eine Liebesgeschichte eingebaut, die ich recht verzichtbar finde, weil sie weder die Handlung voranbringt, noch inhaltlich etwas beiträgt. Die beteiligten drei Personen sind auch – zumindest in dem Teil des Buchs, den ich gelesen habe – kaum herausgearbeitet.

Über Burundi wollte ich lesen, aber leider weiß ich nach teilweiser Lektüre dieses Buchs nicht viel mehr als vorher.

Eis und Schnee und Hunger

Ich war den Sommer und den Herbstanfang unter anderem im Polareis unterwegs. Nachdem ich immer mehrere Bücher gleichzeitig lese und die beiden Polarbücher richtig dicke Wälzer sind, hat es eine Weile gedauert bis ich die Arktis wieder verlassen hatte.

Als erstes habe ich die „Erebus“ von Michael Palin gelesen. Der erste Teil war für mich etwas zähflüssig, weil in dem Buch die Geschichte des Schiffs und nicht so sehr die seiner Besatzung(en) erzählt wird und mich Schiffsbau eigentlich gar nicht interessiert. Die ersten Fahrten der Erebus gingen auch nicht in die Arktis. Aber nachdem das Schiff für das Polareis gerüstet und beladen war, brach die Franklin Expedition auf und ab diesem Zeitpunkt fand ich es sehr interessant. Nur vier Mitglieder dieser Expedition überlebten und das auch nur weil sie frühzeitig von Bord gegangen waren.

Nach drei Jahren im Eis versuchte die Gruppe zu Fuß südlich zu wandern und bewohnte Gebiete zu erreichen, was ihnen nicht gelang, sie starben alle. Das Wrack der Erebus wurde gefunden, auch viele Leichen der Besatzungsmitglieder. Vor kurzer Zeit begann man mit deren Identifizierung mittels DNA-Analyse. Verblüffend ist, dass die Expeditionsmitglieder nicht etwa an Bleivergiftung starben, wie man lange angenommen hatte. Abgesehen von Hunger und Kälte war ein enormer Zinkmangel gegeben, der das Immunsystem sehr schwächt und damit Krankheiten wie Tuberkulose und Skorbut Tür und Tor öffnet.

Durchaus interessant fand ich auch die Passagen, in denen über die Zeit berichtet wird, in der Franklin Gouverneur von Tasmanien war. Ein interessantes Buch, aber keines, das mich umgeworfen hat.

Ganz anders das zweite Buch „Die Polarfahrt“ von Hampton Sides. Hier ist der Erzählstil viel näher an den Protagonisten und es geht nur um eine Expedition. Dieses Buch hat mich von Anfang bis Ende gefesselt. Nicht zuletzt deswegen, weil die Personen sehr gut herausgearbeitet sind und weil sich der Autor aus vielen Quellen Details erarbeitet hat, auch Tagebücher und Briefe wurden berücksichtigt.

“ So grausam das Eis war, so schön konnte es sein. Das Meerwasser, das von unten an die Schollen klatschte, erzeugte ein monotones Rauschen, es erinnerte an den Klang eines Insektenschwarms und hatte etwas Beruhigendes. Hier und dort begegneten die Männer kunstvollen, aus Eis geformten Gebilden, die in einem Blauton schimmerten, der nicht von dieser Welt zu sein schien. An manchen Stellen hatte eine Algenart auf dem Packeis eine dünne Schicht hinterlassen, die ihn rot färbte, weshalb er auch Blutschnee genannt wurde. DeLong beschrieb fasziniert den Moment „wenn das Sonnenlicht durch den Nebel bricht und dabei wie ein Betrunkener zu zwinkern scheint.Die schwere, feuchte Luft war „gesättigt von einem Seufzen und Kreischen, das aus allen Richtungen gleichzeitig kommt“ und dort , wo zwei Eisstücke zusammenstießen „erheben sich Zentimeter um Zentimeter kleine Rüssel aus Schnee“ S 334

Auch diese Expedition verbringt zwei Jahre eingeschlossen im Packeis, bis das Schiff doch von der Gewalt des Eises zerdrückt wird. Die Besatzung versucht mit drei kleinen Booten die sibirische Küste zu erreichen. In einem Sturm werden die drei Boote getrennt. Eines geht unter, die beiden anderen erreichen an verschiedenen Stellen Land. Obwohl ich den Ausgang der Geschichte kannte, fand ich den Text sehr spannend geschrieben, vor allem wegen der vielen Details. Man ist ganz nahe am Geschehen.

Diese Expedition hatte großes Pech, denn sowohl räumlich als auch zeitlich trennte sie mehrmals sehr wenig von einer Rettung. Es überlebten zwei Männer aus dem einen Boot, die, weil sie die kräftigsten waren vom Kapitän vorausgeschickt wurden und die Gruppe aus dem anderen Boot, die etwas mehr Glück hatte.

Hinter dieser Geschichte steckt der furchtbare Irrtum des im 19.Jahrhundert renommierten Geographen und Kartographen August Petermann, der der festen Überzeugung war, dass rund um den Nordpol freies Wasser zu finden sei und aufgrund einer warmen Strömung ein milderes Klima. Nichts davon bewahrheitete sich.

Das Schicksal der DeLong-Expedition auf der „Jeanette“ , eine sehr gründlich recherchierte, tragische, wahre Geschichten. Mit dem nächsten Eisbuch warte ich jetzt bis zum nächsten Sommer. Derzeit sind die Temperaturen schwankend und ungewiss und ich muss mich nicht unbedingt ins sogenannte ewige Eis denken.

71. Beitrag meiner Literatur- und Kunstweltreise Grönland 2 (Dänemark)

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Erica Ferencik

„Ein Lied vom Ende der Welt“

Goldmann Verlag : 2022

Ein spannendes Buch, das ich gerne gelesen habe, trotz etlicher logischer Fehler in der Handlung und für mich nur schwer nachvollziehbarer Entwicklung mancher Charaktere. Bei einem Thriller ist das nicht so schlimm, könnte man sagen. Aber ist es denn ein Thriller? Science Fiction? Fantasy? Einfach ein Roman mit Elementen aus verschiedenen Genres? Wahrscheinlich letzteres.

Sehr gut gefallen haben mir die Schilderungen von arktischen Landschaften, von Schnee, Eis und Stürmen. Deswegen wollte ich das Buch überhaupt lesen. Das Leben in der arktischen Forschungsstation, die Tauchgänge und Ausfahrten in diversen Schnee-Fahrzeugen. Die Forschungen, die dort von den insgesamt fünf erwachsenen Wissenschaftern betrieben werden, klingen interessant, sind aber bei näherer Betrachtung doch etwas seltsam. Ebenso seltsam fand ich, dass das achtjährige Inuitmädchen, das von den Forschern im Eis gefunden und aufgetaut wurde, einfach als weitere Bewohnerin der Station betrachtet wird. Man sollte auch meinen, dass die drei neu angekommenen Forscher sich mit allergrößter Neugierde über den Prozess des Auftauens informieren wollten, zumal alle Beteiligten ja überzeugt sind, dass das Auftauen eines eingefrorenen Lebewesens gar nicht möglich ist. Tun sie aber nicht.

Eine der neu hinzugekommenen Wissenschafter, die Protagonistin des Romans, ist die Schwester eines dort verstorbenen Ökologen. Ob es nun ein Mord oder ein Selbstmord war, ist eine ungeklärte Frage. Der Stationsleiter ist eine schwer durchschaubare Persönlichkeit ebenso wie seine Assistentin, die für alle praktischen Fragen des Lebens zuständig ist, vom Kochen bis zum Reparieren sämtlicher Gerätschaften und Fahrzeuge. Die Protagonistin wird zunächst als eine Frau mit einer schweren Angststörung beschrieben, die es nur mit Hilfe zahlreicher Medikamente schafft, überhaupt aus dem Haus zu gehen. Wäre es eine reale Person, würde ich sehr bewundern, dass sie trotz ihrer schweren psychischen Beeinträchtigung beschließt zu einer arktischen Forschungsstation zu reisen. Für eine Romanfigur kommt mir eine solche Entwicklung aber ein bisschen unwahrscheinlich vor.

Das Thema der Sprachentschlüsselung war für mich interessant. Die Protagonistin ist Linguistin und soll die Sprache des Mädchens aus dem Eis entschlüsseln. Ich habe keine Ahnung von Inuit-Sprachen und weiß auch nicht, ob die Autorin derartige Kenntnisse hat oder ob es sich um reine Erfindung handelt. Jedenfalls fand ich es faszinierend, dass das Mädchen jeden ihrer Sätze mit einem von sieben Wörtern einleitet, die wie sich herausstellte die Emotion der Sprecherin ausdrückten. Sie könnte also zum Beispiel sagen „Traurig. Ich will hinaus“.

Meine Erfahrung mit diesem Buch ist eine seltsame. Obwohl ich ständig auf Szenen stieß, die mir reichlich unwahrscheinlich vorkamen, hat mich das nicht weiter gestört. Die Ungereimtheiten liegen im Detail, aber insgesamt ist der Plot interessant und facettenreich. Erica Ferenciks Geschichte ist spannend und mitreißend erzählt. So habe ich den Roman sehr gerne und sehr schnell gelesen.

Krakenfreundschaft

Craig Foster & Ross Frylink
„Seachange“
Mosaik Verlag: 2022

Beim Salzburger Mosaik Verlag, der zur Randomhouse-Gruppe gehört, gibt es Vielfältiges zu entdecken und nicht zuletzt diesen umwerfenden Bildband.

Vorausgeschickt: die Fotos sind eine wahre Augenweide, man wird richtig hineingezogen in diese fantastische Wasserwelt. Ebenso vorausgeschickt: es gibt auch einen Film zu diesem Projekt. Unter „Mein Lehrer der Krake“ findet man ihn leicht, es gibt ihn aber auch bei Netflix. Er ist sehr sehenswert.

Die beiden Autoren zeigen fantastische Makros von sehr vielen Bewohnern – tierischen und pflanzlichen – der Tangwälder an der südafrikanischen Westküste vom Kap der Guten Hoffnung bis zum Kap Agulhas. Wegen meines großen Interesses für Oktopusse begeistern mich besonders die Portraits der Kraken. Diese faszinierenden bunten Strukturen, der Blick in ihre Augen aus größter Nähe! Ich liebe diese Darstellungen, bei denen man die Strukturen der Haut und sonstiger Organe genau sieht. Viele dieser Fotos haben Qualitäten von abstrakten Gemälden.

Aus meiner Sicht rund um die Fotos gibt es auch Text. Man kann es natürlich auch so sehen, dass der Text von den Fotos illustriert wird. Es ging Craig Foster und Ross Frylink jedem für sich um das
Eintauchen in eine äußere faszinierende Welt ebenso wie um das Tauchen in die eigene Psyche und Vergangenheit. Beide sind gerade ein paar Meter von der Küste und den Tangwäldern aufgewachsen und haben sehr früh zu tauchen begonnen.

Auch die Texte sind ein Eintauchen in eine fremde, faszinierende Welt mit Bewohnern, die die unglaublichsten Eigenschaften und Fähigkeiten haben.

„Ich war überwältigt als ich zum ersten Mal in das Auge eines Gestreiften Katzenhais blickte und sich darin ein ganz anderes Universum spiegelte. Der Hai sammelt Aragonit (eine Kristallform von Calciumcarbonat) aus dem Meerwasser und baut daraus auf der Rückseite seines Auges einen glänzenden Spiegel auf. dies befähigt ihn, in dem dunklen Wald das schwache Mondlicht zu verstärken und sich nachts zu orientieren. Er sieht bei schwachem Licht zehnmal besser als ich“ S 44

Bei den Tauchgängen, den Reisen ins Abenteuer, lebt Craig Foster seine eigene Theorie über die Verbindung des Menschen zur Natur.

„Wir sind überaus anpassungsfähig, aber unser frühes evolutionäres Erbe taucht immer wieder in unserem Seelenleben auf. Wir sehnen uns nach unseren Wurzeln in der Wildnis. Wenn wir sie nicht nähren, fühlen wir uns entfremdet, nicht mit uns selbst in Einklang. Wir fühlen uns gespalten, als verlorene Wesen, die sich in einem immer enger werdendem Kreis des Wahnsinns drehen. Jeder Schritt zurück zu unserer Quelle, zu unserem Ursprung, bringt uns jener positiven Kraft näher, die man Liebe nennen könnte. Die Wildnis lebt als ein Archetypus in den Tiefen unserer Seele fort. Diese Prägung lässt sich nicht auslöschen.“ S 90

Auch für das in der Kalahari lebende Volk der San und ihre Felsmalereien interessieren sich die beiden Autoren und integrieren deren Kunst und Kultur in ihre Betrachtungen über das Verhältnis von Mensch und Natur. Es gibt daher in dem Buch auch einige Fotos von solchen Felsmalereien.

Die nicht ganz einfachen Lebensgeschichten der beiden Autoren werden ebenfalls in die Begegnungen mit den Meereslebewesen verwoben. Am meisten beeindruckt hat mich die Begegnung zwischen Mensch und Krake. Foster schildert seine Freundschaft mit einem Krakenweibchen und es kommt kein Zweifel auf, dass es sich um eine Beziehung handelt, die man als Freundschaft zwischen zwei Species bezeichnen kann. Besonders eindrucksvoll kann man im Film sehen, wie die beiden einander berühren, ja geradezu miteinander kuscheln.

Der wissenschaftliche Zugang zum Meer wird in einem Vorwort von dem Meeresbiologen Jannes Landschoff vertreten, der auch mit Foster und Frylinck im Rahmen des Sea Change Projekts taucht und in einer Einleitung von Jane Goodall, die meint,

(…) dass Menschen tiefe und starke Beziehungen zu vielen verschiedenen Lebensformen aufbauen können S11

Dass Sea Change Projekt entwickelt sich offenbar prächtig:

In dieser Gruppe der „Waldfans“ sind alle Altersgruppen vertreten – von 15 bis 75 – über Generationen hinweg sind Freundschaften entstanden, miteinander verflochten durch die Kraft des Meeres. Dieses gemeinsame Interesse daran, Geschichten zu erzählen und sich über Flora und Fauna auszutauschen, steht im Zentrum der ursprünglichen Naturerfahrung des Menschen, und es verbindet den Menschen mit der Wildnis und die Wildnis mit dem Menschen“ S 329

Ein Thriller aus Nigeria – 70. Station meiner Literaturweltreise

Femi Kayode
Lightseekers
btb Verlag: 2022

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Dieser Thriller des nigerianischen Psychologen Femi Kayode beruht auf einer wahren Begebenheit, Lynchmorden an Studenten. Kayode beherrscht das Handwerk: die Handlung ist spannend, bis zum letzten Moment, linear erzählt, aber es gibt auch einen zunächst nicht identifizierbaren Ich-Erzähler in einem Parallelstrang. Die handelnden Personen sind glaubwürdig charakterisiert. Dem Protagonisten, einem Psychologen, der sich auf die Analyse von Kriminalfällen spezialisiert hat, ist ein Assistent zur Seite gestellt, der zunächst etwas zwielichtig wirkt.

Das Buch ist beim btb-Verlag erschienen und als erster Roman einer Reihe gekennzeichnet. Mit großer Wahrscheinlichkeit werde ich auch den zweiten lesen.

Der Protagonist samt Familie ist zu Beginn der Handlung erst vor kurzem aus den USA nach Nigeria zurückgekehrt:

„Zum millionsten Mal verfluche ich es, meiner Frau zurück nach Nigeria gefolgt zu sein.Ich habe damals gute Miene zum bösen Spiel gemacht, als sie mir ihre Gründe für unsere Rückkehr auseinanderlegte, aber in Wirklichkeit hat sie mich unter Druck gesetzt, und deswegen hege ich immer noch einen tiefen Groll gegen sie.
„Schatz, die Jungs werden dieses Jahr fünfzehn. Ich will, dass wir hier weggehen, bevor sie glauben, dass sie ihre Hautfarbe sind.
Sie hatte natürlich recht. (…) überall konnte man Berichte über Gewalt gegen People of Color lesen. Als wir zu einem Elternabend eingeladen wurden, bei dem ein ganzer Katalog von Verhaltensregeln für schwarze Jungen ausgegeben wurde, für den Fall, dass sie von der Polizei angehalten werden, war Folake außer sich vor Wut und zugleich tief verstört. Die Ereignisse in Seattle brachten das Fass schließlich zum Überlaufen. Sie war entschlossen, die Staaten zu verlassen, ob mit mir oder ohne mich.“ S 191

Es ist kein Buch in einer schillernden, literarischen Sprache mit starken Bildern. Das muss ein Thriller aber auch nicht sein. Seine Stärke für mit Nigeria nicht vertraute Leser*innen besteht in der Schilderung gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse in diesem Land. Es ist geschickt, dass der Protagonist selbst als jemand beschrieben wird, der lange nicht in Nigeria gelebt und daher eine gewisse Außensicht hat:

„Die Neigung der Menschen hier in Nigeria, auf fast alles sofort mit Gewalt zu reagieren, ist etwas, woran ich mich nicht gewöhnen kann. Es liegt so viel Aggression und Wut in der Luft“S 240

Nigeria ist wie viele afrikanische Länder reich an Rohstoffen, in diesem Fall Öl, aber die daraus erzielten Gewinne, kommen beim Volk nicht wirklich an.

Ein höchst interessantes gesellschaftliches Phänomen, von dem ich noch nicht gehört habe und das in diesem Buch eine große Rolle spielt, sind an den Unis gegründete geheime Bruderschaften, die „Kult“ genannt werden. Die allererste dieser Bruderschaften wurde von sieben Studenten des University College Ibadan gegründet, einer von ihnen der Nobelpreisträger Wole Soyinka. Zu Beginn waren es einfach Studentenverbindungen, die den status quo im Land und an der Uni infrage stellten, doch in den nächsten Generationen entwickelten sie sich zu mafiösen Vereinigungen, die am Klima der Gewalt maßgeblich beteiligt sind.

Innerhalb dieses Szenarios entwickelt sich die spannende Recherche, in die eine Menge weiterer bunter Akteure verwickelt sind, die sich als untereinander auf verschiedene Arten vernetzt erweisen.

Hat mir gut gefallen. Allerdings bleibt der Nachgeschmack, dass die aktuellen Verhältnisse in Nigeria nicht viel anders oder gar genauso sind, wie in diesem Thriller beschrieben, was kein Anlass zur Freude ist.

69. Station meiner Literatur- und Kunstweltreise

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Kürzlich habe ich über meine Lektüre von „Die Schönheit der Differenz“ von Hadija Haruna-Oelker berichtet. KLICK. Einiges hat mir gefallen, anderes weniger. Durchgehend interessant fand ich aber die persönliche Geschichte der Autorin und ihr Verhältnis zum Heimatland ihres Vaters, Ghana. Nun ist dies kein Buch über Ghana, aber nachdem die Autorin mehrmals von ihrer Wurzelsuche in diesem Land spricht, erlaube ich mir „Die Schönheit der Differenz“ als Nummer 69 meiner Literaturreise hinzuzufügen.

Hadija Haruna-Oelker „Die Schönheit der Differenz – Miteinander anders denken“

Sehr vorsichtig bin ich an die Lektüre dieses Buchs herangegangen, denn meine Begeisterung für den typischen Stil der Genderforscher*innen hält sich sehr in Grenzen. Die vielen Abkürzungen und Wortschöpfungen, die absurden Pronomen und vieles mehr stehen meinem Engagement für die durchaus berechtigten Forderungen sehr im Weg. „Ja“ zu den Anliegen und deren Umsetzung aber „nein“ zu vielen Wegen dahin.

Meine Vorurteile dazu, dass manche Dinge so verschwurbelt werden, dass niemand sich damit beschäftigen möchte, haben sich gleich einmal bestätigt, denn die Autorin teilt mit, dass sie weiß immer klein und kursiv schreibt,

„… weil es eine Konstruktion ist ebenso wie „Schwarz“. „Schwarz“ schreibe ich groß, um zu verdeutlichen, dass es sich um eine Zuordnung und eine bestimmte Erfahrung handelt, die ich als „Rassifizierung“ verstehe“ S25.

Nun gut, andererseits beginnt das Buch mit:

„In diesem Buch schreibe ich für etwas und nicht gegen etwas an. Ich schreibe für eine diverse Gesellschaft und ihre Schönheit, und ich schreibe für alle, die, die einen Weg dorthin suchen, (…) Dieses Buch ist für Menschen, die nicht nur mit Gleichen reden möchten, sondern erfahren wollen, was ihnen noch unbekannt ist. Es ist für alle, die Fragen haben, auf der Suche nach Antworten sind und die Angst ablegen wollen, etwas falsch zu machen. Die sich Klärung statt Selbstgeißelung wünschen (…) S 9

Diese Einstellung wiederum gefiel mir und so las ich das Buch.

Dass die Autorin als Tochter einer weißen Deutschen und eines Ghanesen Spezialistin für die Diskriminierung von dunkelhäutigen Menschen in Europa im allgemeinen und in Deutschland im besonderen ist, will ich gerne glauben, ob aber sie oder sonst irgendjemand dem Anspruch des „intersektionellen Feminismus“ gerecht wird, auch von den speziellen Gegebenheiten bei allen anderen mehr oder weniger diskriminierten gesellschaftlichen Gruppen zu wissen ? Das ist, denke ich, gar nicht möglich.
Die Autorin bezeichnet sich selbst als Schwarz (immer groß geschrieben) obwohl sie die als korrekt propagierte Bezeichnung BI-POC (Black, Indigenous, People of Color) auf S 26 lang erklärt und befürwortet. Ich nehme dies als einen der vielen Widersprüche und Ungereimtheiten in der Szene.

Ihr Ziel oder ihre Vision beschreibt die Autorin folgendermaßen:

„Es gibt so vieles, was voneinander gesehen und gelernt werden kann. Das soll nicht platt dahergesagt klingen. Nein, es beschreibt eine grundsätzliche Haltung, die vielen noch fehlt. Diese Haltung ist in erster Linie eine offene. Damit meine ich nicht die Neugier und ein Bestaunen von „Anderen“, und ich meine damit auch kein interkulturelles Verständnis von hier meine und da deine Kultur. Nein. Mich treibt ein Gefühl an, das unsere Gesellschaft als zusammengewachsen versteht. S 181

Ich habe mit viel Interesse über Lebenserfahrungen von Hadija Haruna-Oelker gelesen. Wenn sie über eigene Erfahrungen und Gedanken schreibt, sind die Texte leicht zu lesen und vermittelten interessante Eindrücke aus mir unbekannten Welten. Schreibt sie aber über klassische Gender-Themen verfällt sie in mit Tonnen an Szenevokabular überlastete Schachtelsätze. Es wundert mich immer wieder, wie Autoren vermuten können, dass sie durch in diesem Stil geschriebene Episteln irgendjemanden für ihre Themen interessieren können. Ich halte mich da an ein anderes Zitat aus dem Buch, dem ich voll und ganz zustimme

„Doch anstatt in einen vielleicht schmerzhaften, aber dafür ehrlichen Austausch darüber zu kommen, ersticken wir diesen in Debatten über Political Correctness und Identitätspolitik, verklären dabei die Gewalt, die daraus entsteht und übersehen die Folgen “ S199 Ja, genauso sehe ich das auch …

Es ist ja nicht möglich, so ein Buch zusammenzufassen. Ich möchte auch keine Polemik zu einigen Aspekten eröffnen. ich beschreibe daher nur meine Eindrücke. Auf der positiven Seite stehen der humanistische Ansatz des Buchs, die umfangreiche Bibliographie, die Zusammenstellung von Vereinigungen und Gruppen, die sich mit erwähnten Themen beschäftigen und die sehr authentisch erscheinenden Berichte aus dem Leben der Autorin.

Auf der negativen Seite steht die schlechte Strukturierung und die Länge des Buchs. Bei einer Straffung um mehr als die Hälfte und einem nachvollziehbareren Aufbau der Themen, kämen die Inhalte besser bei den Leser*innen an. Bei mir löst es Langeweile aus, wenn ich statt des Kernsatzes „alle Menschen sind gleichwertig, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, Religion, Alter, Gesundheit ….“ fünfhundert Seiten lesen soll, in denen genau dies in mäanderndem Stil beschrieben wird.

Ich bin wahrscheinlich etwas ungerecht. Ich habe auch Dinge gelesen, die mir neu waren und die mich interesiert haben, nur hatte ich den Eindruck, dass ich mich wie mit einer Machete durch den Urwald zu ihnen vorkämpfen musste, weil drumherum so viele HIndernisse im Weg standen.

Donnerstag 11. August 2022

Muss man alles, was man begonnen hat auch zu Ende lesen? Nein, nein, eindeutig nein. Ich habe leider die blödsinnige Gewohnheit immer alles fertig zu lesen, egal wie absurd ich es finde, egal wie langweilig es ist, wenn ich einmal begonnen habe, lese ich auch weiter. Bei Zeitschriften habe ich mir immerhin schon abgewöhnt, auch Artikel zu lesen, die mich gar nicht interessieren. Bei Büchern arbeite ich daran, ziemlich heftig, denn 600 Seiten Sachbuch ohne erkennbaren roten Faden übersteigen meinen Leidenswillen.

Ein Foto, das ich in meinen Archiven gefunden habe. Es ist – wen wundert´s – eine Spiegelung. Wenn ich mich recht erinnere auf einem Autofenster.

Dienstag 27. Juli 2022

In der Bücherei gibt es Sackerl zum Büchertransport im Angebot, die von verschiedenen Institutionen gesponsert werden. Zum Beispiel von der „Bestattung Wien“. Das Sackerl ist schwarz und es steht darauf „ich lese bis ich verwese“ . Naja …

Ich habe mir in dieser Bibliothek zwei Bücher zum Thema Polarreisen bestellt, die hoffentlich noch rechtzeitig vor dem Aufflammen der nächsten Hitzewelle ankommen werden. Ich stelle es mir ordentlich abkühlend vor über Eis und Schnee und Schlittenhunde und Polarnächte zu lesen. Einmal ganz abgesehen davon, dass ich gerne Beschreibungen von Polarexpeditionen lese.

Derzeit lese ich gerade ein Buch, bei dem ich mir zunächst nicht sicher war, ob ich es tatsächlich lesen wollte. Aber es scheint doch anders zu sein, als ich befürchtet hatte. Ich lasse mich drauf ein und versuche, die nervigen Abkürzungen der Gender-Soziologen-Sprache mit Fassung zu tragen und zum Kern der Aussagen vorzudringen.

„Ich bin eine Schwarze, nicht behinderte, normschlanke, cis-hetero Frau mit der Erfahrung chronisch krank zu sein. Ich bin Mutter, Ehefrau, Tochter, Schwester, Journalistin und Feministin. Ich wurde in Westdeutschland sozialisiert. Meine Perspektive ist die eines Arbeiter*innen und Angestelltenkindes der sogenannten unteren Mittelschicht, das studiert und einen sozialen Aufstieg erlebt hat. Ich bin Teil einer weltweiten Geschichte der Unterdrückung. Eingebettet in ein soziales Umfeld, bin ich von Menschen umgeben, die mir zeigen, was es heißt, migriert, Schwarz, behindert, arm, muslimisch (gelesen zu werden) jüdisch, sinti, queer, dick_fett, neurodivers, und/oder chronisch krank zu sein“ Hadija Haruna-Oelker

Mit dem „gelesen zu werden“, das sich nur auf „muslimisch“ zu beziehen scheint, kann ich nichts anfangen, aber ansonsten klingt das so als könnte es mich interessieren..