Von 12 Wörtern konnte man sich sieben aussuchen und damit einen beliebig langen Text schreiben zum Thema #stayathome. Mein Text heißt „Heimat“ und die folgenden Wörter in alphabetischer Reihenfolge habe ich eingebaut:
HEIMAT
Früher als ich noch wirklich viel und weit reiste, gab es eine mit anderen Reisenden immer wieder aufgeworfene Frage „was hat dir in Irgendwo gefehlt?“ bzw „Worauf hast du dich beim Nachhausekommen gefreut?“ Das war im Grunde eine andere Art zu fragen „Was macht für dich „zuhause“ aus?“.
Die Antwort auf die Frage, worauf man sich beim Nachhausekommen gefreut hätte, war erstaunlich oft „das Schwarzbrot und das Wiener Leitungswasser“. Man kann meinen, dass das eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise ist. Vielleicht ist es das aber gar nicht. Wasser und Brot sind Grundnahrungsmittel, solide Pfeiler des Lebens. Ob man Tempel bestaunt oder Vulkane, amerikanische, asiatische oder afrikanische Stoppelfelder durchquert, Wasser und Brot spielen auch auf Reisen immer eine Rolle.
Das Heimatgefühl ist vielschichtiger als Vorlieben für Brot und Wasser, natürlich. Menschen gehören dazu, Orte und eine bestimmte Sprache. Meist sind diese Faktoren miteinander verwoben, manchmal muss aber auch einer die Funktionen aller übernehmen. Für Emigranten etwa ist die Sprache der Heimat ein wichtiges Verbindungsglied zu ihren Wurzeln und ihrer Identität, auch wenn die heimatlichen Orte und Menschen nicht mehr da sind.
Meine Heimat ist Wien, die Stadt, die Menschen, die Sprache, so sehr sie mir auch öfters auf die Nerven gehen.
Aufgewachsen bin ich in einem Bezirk gleich neben der Innenstadt. Als Teenager sah ich als größten Vorzug unserer Wohnung, dass ich in einer knappen Viertelstunde zu Fuß im Stadtzentrum war. Dass es außerdem eine schöne und große Altbauwohnung war, wie es in Wien viele gibt, mit Holzpaneelen und Stukkatur war mir vorübergehend nicht so wichtig.
Die Leopoldstadt, der zweite Wiener Gemeindebezirk ist ein historisch belastetes Pflaster. Hier lebte der Großteil der wiener und österreichischen Juden bevor sie deportiert und ermordet wurden. Ersparen wir uns die Zahlen und die Gedanken an die beschämenden Szenen. In vielen Häusern wurden die für Deportationen bestimmten Menschen festgehalten und lebten dort eine Zeit lang zusammengepfercht. Als das Haus, in dem wir gewohnt hatten längst abgerissen war, ein daneben liegendes Krankenhaus wollte sich erweitern, stieß mein Bruder auf die Information, dass „unser“ Haus damals so eine Vorabteilung der KZ-Höllen war. Er fand sogar einen Überlebenden, der damals noch als Kind dort interniert war.
Als wir dort lebten, war der Bezirk nicht besonders interessant. Ganz im Gegensatz zu heute. Erstaunlicherweise ist die Leopoldstadt ein lebendiges, brodelndes Viertel geworden mit sehr vielen Lokalen und Ateliers, viele davon haben den Corona-Lock-Down überlebt. Auch das jüdische Leben ist zurückgekehrt. Es gibt jede Menge koschere Geschäfte und Lokale, man sieht orthodoxe Juden mit und ohne Familie zu den wiedererstandenen Synagogen spazieren. Ich frage mich immer, wieso man diese Leute als ich im Bezirk wohnte nicht gesehen hat. Sie werden kaum neu zugewandert sondern auch in meiner Kindheit schon dagewesen sein, aber sehr unauffällig.
Es gibt Gassen im Bezirk mit Gedenksteinen und kleinen Mahnmälern. Es ist eine recht seltsame Atmosphäre, manchmal jung und lustig, manchmal düster und schwer an den Erinnerungen tragend. Den Erinnerungen, die sich im Kopfsteinpflaster festgebissen haben und an dunklen, nebligen Tagen herauskommen um sich die Beine zu vertreten und die heitere Atmosphäre wegzudrängen. Man muss sie gewähren lassen, schließlich ist ihr Heimatrecht hier älter als jenes der jungen Szene, die sich erst vor kurzem etabliert hat.
Ich spaziere gerne durch mein „homeland“, diesen Bezirk der lauten Zwischentöne und der leisen Zivilcourage. Es hat sich vieles sehr verändert und doch auch wieder nicht. Heimat ist Heimat. Ich erkenne die Veränderungen und sehe doch vor dem inneren Auge, wie es früher ausgesehen hat. Es ist ja auch kein Zufall, dass mein Lieblingsatelier, wo ich immer wieder male ganz nah an unserem nicht mehr existenten Wohnhaus liegt.
Gerade habe ich mich vage an ein Gedicht von Anton Wildgans erinnert und es auch tatsächlich gefunden. Meine damalige Deutschlehrerin könnte einen pädagogischen Erfolg verbuchen.
Ich bin ein Kind der Stadt
Ich bin ein Kind der Stadt – Die Leute meinen
und spotten leichthin über unsereinen,
Daß solch ein Stadtkind keine Heimat hat.
In meine Spiele rauschten freilich keine
Wälder. Da schütterten die Pflastersteine,
Und bist mir doch ein Lied, du liebe Stadt.
Und immer noch, so oft ich dich für lange
Verlassen habe, ward mir seltsam bange,
Als könnte es ein besondrer Abschied sein.
Und jedesmal, heimkehrend von der Reise,
Im Zug mich nähernd, überläuft’s mich leise,
Seh’ ich im Dämmer deine Lichterreihn.
Und oft im Frühling, wenn ich einsam gehe,
Lockt es mich heimlich raunend in die Nähe
Der Vorstadt, wo noch meine Schule steht.
Da kann es sein, daß eine Straßenkrümmung,
Die noch wie damals ist, geweihte Stimmung
In mir erglühen macht wie ein Gebet.
Da ist ihr Laden, wo ich Heft und Feder,
Den ersten Zirkel und das erste Leder
Und all die neuen Bücher eingekauft,
Die Kirche da, wo ich zum ersten Male
Zur Beichte ging, zum heiligen Abendmahle,
Und dort der Park, in dem ich viel gerauft.
Dann lenk’ ich aus den trauten Dunkelheiten
Der alten Vorstadt wieder in die breiten
Gassen, wo all die lauten Lichter glühn.
Und bin in dem Gedröhne und Geschrille
Nur eine kleine, ausgesparte Stille,
In welcher alle deine Gärten blühn.
Und bin der flutend-namenlosen Menge,
Die deine Straßen anfüllt mit Gedränge,
Ein Pünktchen nur, um welches du nicht weißt.
Und hab’ in deinem heimatlichen Kreise
Gleich einem fremden Gaste auf der Reise
Kein Stückchen Erde, das mein eigen heißt.
Anton Wildgans
Im Café Beethoven mitten in der Stadt, soll Wildgans gerne geschrieben haben. Cafés mit dem Namen Beethoven gibt es eine Menge. Viele Spinnennetze und Verbindungen halten so eine Stadt zusammen. In Österreich wird ja immer noch gelegentlich daran gearbeitet, den Eindruck zu erwecken, dass Beethoven Österreicher, aber dafür Hitler Deutscher gewesen wäre.
Wir machen jetzt einen großen Schwenk zum moderneren Wien, zur Donauinsel, dem beliebtesten Naherholungsgebiet der Wiener. Als Überschwemmungsgebiet für die Donau gebaut, ist die Donauinsel heute ein Freizeitparadies, das die Möglichkeit für Radtouren und Wanderungen weit über das Wiener Stadtgebiet hinaus bietet. Auch für Wasserratten ist gesorgt, für die menschlichen und höchstwahrscheinlich auch für die vierbeinigen.
Man sieht hier zwar keine Yachten, keinen Raddampfer und keinen Windjammer, aber jede Menge kleiner Boote, Wasserschifahrer, Surfer. Die Insel ist groß. Man kann in abgelegenen Teilen unter Bäumen und Büschen Herz-Schmerz-Gedichte lesen oder auch schreiben oder man kann sich in den Trubel der Lokale direkt am Wasser werfen. „Konnte“ meine ich, vor Corona.
Das Donauinselfest als Massenveranstaltung ist heuer auch abgesagt worden. Damit die Musiker irgendetwas zu tun haben, fährt ein Bus mit immer wieder anderen Musikern durch Wien, man weiß aber vorher nicht, wo er stehenbleiben wird. Der positive Effekt dieses Projekts: es finden sich nicht viele Zuhörer zusammen, weil man ja vorher nicht weiß, wo musiziert wird. Der negative Effekt dieses Projekts: es finden sich nicht viele Zuhörer zusammen, weil man ja vorher nicht weiß, wo musiziert wird. Auf weitere Kommentare dazu verzichte ich lieber.
Die Wiener Innenstadt ist, was die Architektur betrifft, tatsächlich so etwas wie ein Freilichtmuseum. Aber es gibt auch Menschen, die dort wohnen, ganz normale Menschen, die nicht nur in Feinschmeckerlokalen sondern auch in Kantinen essen, die ihre Kleidung sicher nicht auf dem Kohlmarkt, dem teuersten Pflaster von Wien kaufen, deren Kinder in ganz normale öffentliche Schulen gehen und nicht ins Schottengymnasium und die im Urlaub an die Adria fahren und nicht in die Toskana. Und viele dieser Menschen arbeiten in der Gastronomie, im Tourismus und in der Kulturszene und sind nun arbeitslos.
Wien ohne Touristen ist ein anderes Wien. Wien ohne Konzerte, Theater, Oper, Festspiele, Ausstellungen, offene Ateliers und viele andere Veranstaltungen ist ein anderes Wien. Wien mit geschlossenen Nachtlokalen, Clubs, Diskos ist ebenfalls ein anderes Wien. Wenn auch der Blick auf das bewohnte Freilichtmuseum ein freierer, ungestörterer ist und es für uns Einheimische ein Genuss ist, nicht permanent über Reisegruppen zu stolpern.
Es ist lästig sich ständig durch die Mengen in der Innenstadt und anderswo durchdrängen zu müssen, aber schließlich muss man nur in eine Nebengasse abbiegen und schon ist niemand mehr zu sehen. Da ist das Kopfsteinpflaster in den für heute viel zu schmalen Gassen, die alten Häuser mit den Innenhöfen und diese ganz spezielle Stimmung. Ich habe einmal in einem Interview mit einem französischen Psychiater gelesen, dass für ihn die Wiener die fröhlichsten Depressiven wären, die er kenne. Da ist schon was dran.
Langsam beginnen mir die Touristen schon fast zu fehlen. Denn es macht auch stolz in einer Stadt zuhause zu sein, die so schön ist, dass so viele Menschen sie sehen wollen. Auch das gehört zum Heimatgefühl.
Wien, 21.Juli 2020