Schlagwort: Schreibprojekt 2020 –

Stilübungen auf Anregung von Jutta Reichelt

Vielen herzlichen Dank für die Anregung von Jutta Reichelt , die mir einen ungemein vergnüglichen Nachmittag beschert hat. Nach dem unerreichten Vorbild von Raymond Queneau, der einen Ursprungstext in 99 verschiedenen Textsorten variiert hat, schlägt sie die Übung vor einen eigenen Text in verschiedenste Formen zu verpacken. Ich dachte mir, am einfachsten geht das zum Einstieg mit einem möglichst kurzen, möglichst banalen Text.

Das Schreiben hat mir sehr viel Spaß gemacht und ich sehe da viele, viele Möglichkeiten und Variationen.

Das war der Ausgangstext:

An einem der ersten wirklich warmen Frühlingstage stand ich unter den blühenden Obstbäumen und schaute den Hummeln zu, wie sie freundlich um mich herum brummelten.

Und nun einige Variationen. Es sind eigentlich nur Skizzen, die längenmäßig ausbaufähig wären

Science fiction:

An einem der ersten wirklich warmen Frühlingstage stand ich unter den blühenden Obstbäumen.

Aus dem unnatürlich blauen Himmel schwebte etwas nieder, was mich zunächst gar nicht an die klassische Darstellung einer fliegenden Untertasse erinnerte. Rundlich war es und pelzig und es summte irgendwie freundlich. Was aus diesem Gefährt allerdings herauskam, gehörte ab dem allerersten Moment der Begegnung zu den allergrößten Schrecken der Menschheit.

Kitsch:

An einem der ersten wirklich warmen Frühlingstage stand ich unter den blühenden Obstbäumen

Als ich an meinen Liebsten dachte, den die Pflicht ans andere Ende der Welt gerufen hatte, wollte es mir schier das Herz zerreißen. Der blaue Himmel erinnerte mich an die Farbe seiner Augen und die zarten Blütengebilde an die vielen Blumensträußlein, die er mir dargebracht hatte, als er noch an meiner Seite war. Ob wohl das Summen der Hummeln ein lieber Gruß von ihm war.

Naturwissenschaft:

Wissenschaftlicher Name: Bombus

FamilieEchte Bienen (Apidae)

Höhere KlassifizierungBombini

Die Hummeln sind eine zu den Echten Bienen gehörende Gattung staatenbildender Insekten, die zu den Stechimmen oder Wehrimmen gehören.

Schnurspringen:

EinszweidreiHummelBummelBlütenvier

UndnocheinZweigsiebenundzwanzigachtundzwanzigBlühblühblüh

HundertsiebzehnblauerHimmelUndnochdrei

FrühhhhhhhlingFrühhhhhhhlingunduffundaus

Spionage:

An einem der ersten wirklich warmen Frühlingstage stand ich unter den blühenden Obstbäumen.

Wenn ich den Code richtig verstanden hatte, was keineswegs sicher war, musste ich nach einem Hummelnest suchen. Unser neuer Abteilungsleiter war ein echter Spinner und  bestimmte die blödsinnigsten Orte zu Briefkästen. Nun musste ich also hier in diesem blühenden Obstgarten herumstiefeln und versuchen ein Hummelnest zu finden, möglichst ohne draufzutreten. Ich musste auch irgendwie meine Paranoia im Griff behalten, die mir zuflüsterte, dass der Abteilungsleiter genau wusste, dass ich gegen Hummelstiche allergisch war.   

Sandkistenbesucher:

Summende, feuerspeiende Drachen, die in der Sandburg wohnen. Sie sind durstig und der Burggraben muss aufgefüllt werden, mit dem roten Küberl. Dann landen sie auf der Burg und wohnen dort. Die Sandkiste hat zwei Farben, eine unter dem Baum, die andere weiter weg. Vom Baum fallen weiß-rosa Luftboote, die muss ich angreifen. Ohhhh jetzt habe ich sie in der Hand und sie sind weg. Sie sollen wieder zurückkommen !!

An die Bürgerbeschwerdeplattform:

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wieder einmal muss ich mich an Sie wenden um die untragbaren Zustände in dieser Wohnanlage anzuzeigen.

Schlimm genug ist der ständige Lärm, die widerwärtigen Gerüche, der Müll, der überall herumliegt. Nun haben aber einige Leute dem Fass den Boden ausgeschlagen  und unter den Apfelbäumen neben unseren Parkbänken eine Sandkiste aufgestellt. Eine Sandkiste! Zu allem Überfluss lässt man dort Kinder spielen, die nichts Eiligeres zu tun haben als unter lautem Johlen die Baumblüten zu zerquetschen. In den Ländern, aus denen sie kommen, hat man eben keinen Schönheitssinn.

Ich fordere Sie ganz entschieden auf, diese unhaltbaren und sicher ungesetzlichen Zustände mit der ganzen Macht des Staates zu unterbinden.

 

Moritat nach der Melodie von Mackie Messer (3 mal 4 Silben, einmal 3 Silben, geleiert)

Blauer Himmel

Rosa Blüten

Und die Hummeln

Schon erwacht            

        

Doch die Menschen

Welch ein Jammer

Sind im Frühjahr

Auch so schlecht

 

Eine halbver-

-krümmte Leiche

Lag unter dem

Apfelbaum

 

Und die Blüten

Von dem Baume

Leuchten ganz be-

-sonders schön

 

Commissario

Adlerauge

Prüft die Leiche

Ganz genau

 

Und er findet

Auch die Spuren

Von dem Böse-

-wicht gar schlau

 

S´war der Boris

Gar kein Zweifel

Seine Handschrift

ist bekannt

 

Ausgangssperren

Gab es keine

In den Landen

Von U.K

 

Die Spitäler

Waren leider

Ausgestattet

Nur zum Schein

 

Und so blieben

Viele Bürger

Dieses Landes

Liegen nur.

 

Doch die Rache

Kam sehr hurtig

Und nun ist er

Selbst auch krank

 

Doch man muss sich

Gar nicht sorgen

Denn der Boris

Schafft das schon

Die fünfgeteilte Forsythie – ABC-Etüden

Den heutigen Vorschlag von Jutta Reichelt, ebenso inspirierend wie bisher alle ihre Anregungen, wollte ich gleich ausprobieren. Es geht darum kleine Texte in irgendeiner Art miteinander zu verbinden. Ich habe den Vorschlag mit einer ABC-Etüde verbunden. Es ist also quasi alles mit allem verbunden. Mein verbindendes Element war die Forsythie, die ich ursprünglich als zu verwendendes Wort kreativitätsvernichtend gefunden habe. Aber, die Zeiten ändern sich, gewissermaßen …

AC-Etüden bei Christiane  

Diesmal mit 5 Begriffen, die in 500 Wörtern untergebracht werden

Der Hund grub mit vollem Elan neben der Forsythie, dann ließ er sich mit einem Plumps auf dem ausgehobenen Hügel nieder und blickte herausfordernd um sich. Ha, sollte die blöde gestreifte Katze mit ihrer lächerlichen Schwanzkringlerei nur kommen, er war bereit und gerüstet, absolut Herr der Situation. Heute konnte sie ihre Krallen woanders schärfen als in seinem Gesicht. Heimtückische Wesen diese Felinen.  Zuerst zuckten sie freundlich mit dem Schwanz, was jeder Hund als Begrüßung interpretierte. Kam man aber näher um sie etwas zu beschnüffeln, fuhren sie in aberwitziger Geschwindigkeit die Krallen aus und schlugen auf den wehrlosen Hund ein.

Am späten Nachmittag rückte ein Filmteam rund um die Forsythie an. Die Darsteller, ein junges Paar brachten sich auf einer schmiedeeisernen Gartenbank in Position. Sie trug ein Kleid mit Krinoline und ein Spitzenhäubchen, er enganliegende Pantalons und ein Sakko in himbeerrot und einer sehr großen Schleife um den Hals. „Nächstes Mal muss ich dann als Marienkäfer auftreten“ murmelte der Schauspieler grimmig. Das Team wartete auf den Sonnenuntergang und der Regisseur nutzte die Gelegenheit den beiden ihren Text nochmals vorzusagen. Du sagst „ach, Herr Adalbert, es ist heute so warm hier“ und du sagst „Ach Fräulein Hildegund, an meiner Seite sollen sie niemals erfrieren“

Hinter der Forsythie begann das Nachbargrundstück. Mitten auf der verwahrlosten Wiese war ein Hügel aufgeschüttet worden. Darunter befand sich der vollständig ausgestattete Bunker von Herrn Helmer. Eine Zeit lang ging es sehr laut und geschäftig zu, die Wagen vieler unterschiedlicher Firmen standen vor dem Haus. Dann wurde es ruhig. Der Bunker war perfekt ausgestattet. Es fehlte weder an Lebensmitteln noch an Filteranlagen für Luft und Wasser. Die Betten waren bezogen, die Antennen ausgefahren, das Kurbelradio und die Wiederaufbereitungsanlagen betriebsbereit. Viele Tage verbrachte Herr Helmer in seinem Bunker, den er immer wohnlicher ausgestaltete. Nur manchmal fehlte ein wenig Farbe. Heute hatte er sich einen Forythienzweig abgeschnitten. 

Der junge Mann kam gerade an der Forsythie vorbei als ihm einfiel, dass er vergessen hatte für den morgigen Geburtstag seiner netten, immer hilfsbereiten Nachbarin einen Strauß zu besorgen. Er blieb abrupt stehen und dachte nach. Konnte er … Wäre es sehr unverschämt … Sollte er tatsächlich… Der Garten der Nachbarin war riesig, sie hatte ganz bestimmt keinen Überblick über alle ihre Pflanzen. Ein Forsythienzweig, ein besonders schön verzweigter, zwei Birnenblütenzweige, vielleicht fand er auch noch Palmkätzchen. Im Teil des Gartens, vor dem er stand, hielt sich nie jemand auf. Mit einem Sprung war er über der Mauer. (98)

Eine Biene flog über die Forsythie. Ein angewiderter Blick aus Facettenaugen traf den blühenden Strauch. Gelb – eine furchtbare Farbe. Manche Bienen hatten ja überhaupt keinen Kunstverstand und von Farben verstanden sie auch nichts. Schlimm genug wenn man mit einem wuselnden Volk voller Banausinnen leben musste, besonders im Frühling. Sie liebte die warmen Töne, rot, rosa, manche blaue Blüten mochte sie auch. Aber gelb ! Selbstverständlich suchte sie die Blüten, die sie besuchte nach rein künstlerischen Kriterien aus, nach ihren Proportionen, dem Schwung der Blütenblätter, den farblichen Harmonien. Das Leben war schön.  

497 Wörter

Ein Foto und 5 Minuten

Eine Kombination aus zwei Kreativtechniken: ein Bild als Ausgangspunkt und 5 Minuten drauflos schreiben. Ich merke einen ganz großen Unterschied zwischen wirklichem Drauflosschreiben – dessen Ergebnisse ich hier kaum veröffentlichen würde – und Drauflosschreiben unter Wahrung gewisser Vorsicht. Der Mittelweg muss her, offenes Schreiben, aber nicht allzu tief unter der Oberfläche. Ob das geht?

Menschen und Dinge liegen hinter einem Schleier. Schleier isolieren, trennen, in gewisser Weise schützen sie auch. Aber wovor, vor der Welt, vor dem Leben, vor anderen. Der Bildschirm zwischen Menschen, ein Gedanke, den ich auch schon anderswo gelesen habe. Welcher Gedanke ist schon originell? Ein Sommerhut. Ob sich in diesem Sommer Gelegenheiten zum Hut tragen ergeben werden? Na, jedenfalls besitze ich einen Sommerhut, für alle Fälle. Salzkammergut mit Hut und wehenden Bändern. Na ja. Aus dem Reisen wird in diesem Sommer wohl nichts werden. Ist nicht so schlimm, es ist ohnehin viel zu heiß und ab September stehen mir ja alle Zeiten des Jahres zur Verfügung. Schnelle Jahreszeiten, tiefe Jahreszeiten, gar keine Jahreszeiten, aber Sonnwendfeiern. Zu Weihnachten habe ich eine Schiffstour auf der Donau zum Sonnwendfeuerwerk im Juni geschenkt bekommen. Ein ganz liebes Geschenk, über das ich mich sehr gefreut habe. 5 Minuten 

Donnerstag 30.1.20.

Was also habe ich jetzt aus dem Schreiben von „Kälte“ und den Kommentaren dazu gelernt ? Na, eine ganze Menge. Ich will das jetzt hier aber nicht auflisten sondern in den nächsten Text einfließen lassen. Nur ein paar allgemeine Dinge.

Sehr interessant fand ich „Erich“. Ich wollte ihn eigentlich – vor allem gegen Ende-  als Verkörperung der Tatsache sehen, dass Armut und Ausgrenzung – im Gegensatz dazu, wie es in vielen Klischees vorkommt – keineswegs ein Garant für Moral und solidarisches Verhalten ist. Das ist gar nicht gelungen, weil „Obdachloser“ sofort das Klischeebild  „armer, guter, zu Unrecht ausgegrenzter  Mensch“ erzeugt. Eine Erinnerung daran, dass man beim Schreiben die höchstwahrscheinlich vorhandenen Bilder der Lesenden berücksichtigen muss oder aber den Charakter, der den allgemeinen Vorstellungen nicht entsprechen soll sehr sorgfältig herausarbeiten muss. Sorgfalt ist leider nicht meine allergrößte Stärke.

Was mich freut, ist, dass ich langsam wirklich Lust dazu bekomme glaubwürdige Figuren zu erfinden. Womöglich ist es wirklich ein Weg zuerst die Figuren zu „schaffen“ und sie dann in Kontakt und Verbindung zueinander zu bringen. Klingt ziemlich faszinierend und nach einem „work in progress“.

Morgen beginnen für mich die Semesterferien.

„Kälte, die Happy-end-Version“ SP20 #3b

Elisabeth saß auf der Parkbank neben Erich. Es war Erichs Bank. Hier verbrachte er den Tag, hier sortierte er gerne seine Besitztümer in verschiedene Behälter und Tragtaschen, im Sommer schlief er hier auch manchmal. Die Lage fand er ideal: im vorderen Bereich eines Parks, neben einem Eingang zur U-Bahn für die ganz kalten Tage und gegenüber ein Supermarkt mit großen Containern in denen täglich eine Überfülle an Esswaren landete. Die Angestellten ließen die Tore zum Müllplatz manchmal unversperrt, aber darauf war Erich nicht angewiesen. Er hatte es über viele Wege und Windungen aus seinem alten Leben zu einem Schlüssel zu dem üppigen Müllplatz gebracht. Eigentlich war er das, was man in der Leistungsgesellschaft einen tüchtigen Menschen nannte. Er schöpfte die begrenzten Möglichkeiten seiner aktuellen Lage voll aus.

Die junge Frau, die uneingeladen aufgetaucht war, kannte er schon seit ein paar Monaten. Als sie sich das erste Mal auf seine Bank setzte, wollte er grob werden und seine Besitzansprüche ganz deutlich machen, aber sie schlotterte vor Kälte und war nicht in der Lage weiterzugehen. Seltsam sah sie aus für einen Platz auf dieser Parkbank. Seltsam war auch, dass ihr Schüttelfrost langsam aufhörte, dass sie nach einer Weile sogar ihre Jacke auszog, den langen Schal über die Lehne der Bank hängte. Die Handschuhe landeten in ihrer Tasche und sie schaute sich um.

In der näheren Umgebung war Erich nicht der einzige Parkbankbewohner. Etwas weiter hinten hatten Marianne und Oskar zwei Bänke nahe nebeneinander geschoben und ihren Einkaufswagen aus dem Supermarkt dazwischen geparkt. An manchen Tagen wurden die Bänke von einem Parkaufseher oder sonst jemandem wieder auseinandergestellt. Es blieb nicht lange so.

Mit etwas gutem Willen und großzügiger Auslegung des Begriffs konnte man Marianne und Oskar als Paar bezeichnen. Beide waren sie auf ihre Art verschroben und eigenbrötlerisch und kamen selten mit jemandem länger aus. In ihrer Beziehung zueinander machten sie da gelegentlich eine Ausnahme. Wenn sie auch nicht gerade ein harmonisches Paar waren, so fanden sie doch immer wieder zusammen und es gab auch Tage an denen sie gemeinsam Erich besuchten und zu dritt die nächtlichen Erwerbungen aus den Supermarktcontainern genossen. So viel sozialer Umgang reichte ihnen dann aber für eine Weile und oft zogen sie dann auch getrennt durch andere Bezirke.

Elisabeth erinnerte sich gut an diesen ersten Tag auf der Parkbank. Sie brauchte eine Weile bis sie Erichs unfreundliche Blicke bemerkte. Die Kälte hatte sie völlig eingeschlossen, von der Welt isoliert. Ihre Knochen und Gelenke fühlten sich an wie vereist und nahe am  Splittern. Sie hatte so stark gezittert, dass sie sich kaum noch in der Lage gefühlt hatte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, nicht einmal für die wenigen Schritte, die vor ihr lagen. So fiel sie auf die Parkbank und klammerte sich an die Lehne in der Hoffnung das Zittern dadurch etwas einzudämmen. Und wirklich wurde ihr nach einer Weile langsam immer wärmer, eine Energiewelle durchflutete ihren Körper, ihre Temperatur stieg an, Muskeln und Sehnen wurden wieder geschmeidiger. Sie begann sich umzusehen. Und nach einer Weile hatte sie sich so gut aufgewärmt, dass sie weitergehen konnte.

Zum ersten Mal seit langer Zeit erschien ihr der Marmorboden ihrer Eingangshalle nicht als unendliche, kalte Fläche, die sie wie eine Polarforscherin mit letzter Kraft durchqueren musste. Sie sah wieder die feine rosa-graue Marmorierung im weißen Stein und die schönen Proportionen des Raums, der Schwung des Jugendstil-Geländers der Treppe in den ersten Stock fiel ihr auf und die Schattenmuster an den Wänden der Galerie. Sie war zuhause und es war ihr nicht kalt.

Doch nach ein paar Tagen war alles wie vorher, die Kälte hatte sie wieder eingeholt. Der Schüttelfrost kam immer wieder, unter mehreren Daunendecken und mehreren Schichten von Bekleidung bei 25 Grad im Raum fror sie auch nachts erbärmlich.

Bei den zahlreichen Untersuchungen, die sie in den letzten Wochen absolviert hatte, konnte nichts weiter festgestellt werden als eine starke Untertemperatur, deren Ursache nicht geklärt werden konnte. Die Kälte war schlimm, noch schlimmer war, dass ihre Beziehungen und Kontakte zu anderen Menschen immer weniger wurden, dass die Kälte sie in jeder Hinsicht isolierte.

Auf ihrem Weg von der Privatklinik, auf die sie so große Hoffnungen gesetzt hatte, bis zum Parkplatz wo ihr Auto mit oder ohne Chauffeur auf sie wartete, musste sie den Park mit Erichs Bank durchqueren. Mehrmals schon hatte sie sich zu ihm gesetzt und jedes Mal trat der unerklärliche Erwärmungseffekt ein, der dann ein paar Tage andauerte. War die Erwärmung auf die Klinik zurückzuführen? Das konnte nicht sein, denn dort wurden nur Untersuchungen durchgeführt. Zufälle, deren Ursache nicht ergründet werden konnten? Zyklische Vorgänge im Organismus? Oder vielleicht doch der Park, die Bank, der Obdachlose? War es aber der Ort, oder die konkrete Person, oder jeder Obdachlose?

Elisabeth suchte verzweifelt nach Lösungen. Die Medizin hatte ihr nichts zu bieten, so wendete sie sich der Psychologie zu und konsultierte mehrere Größen auf diesem Gebiet. „Überschießende Psychosomatik“, „extreme Empathie“. Diese Diagnosen halfen ihr nicht weiter. Das Angebot eines Psychoanalytikers in Therapiesitzungen zwei- oder dreimal die Woche ihre Kindheit zu durchforsten, lehnte sie ab. Sie brauchte schnellere Lösungen.

Als junger Erbin eines sehr beträchtlichen Vermögens, die obendrein gerade ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen hatte, boten sich ihr ebenso weit gefächerte wie interessante Einstiegsmöglichkeiten ins Berufsleben. Theoretisch zumindest. Als ständig vor Kälte zitternder junger Frau, die darauf angewiesen war in regelmäßigen Abständen, ja, was eigentlich zu tun, um ihre Körpertemperatur zu halten, boten sich ihr nur sehr wenige Möglichkeiten und keine davon gefiel ihr.

Monatelang besuchte Elisabeth Erich regelmäßig. Er war einer der ganz wenigen Menschen, die sie noch regelmäßig sah. Die Kälte und die Verzweiflung lähmten sie lange, aber Elisabeth war eine strukturierte, systematisch vorgehende Frau und als ihre Lebensgeister zurückkehrten, begann sie  in der ganzen Stadt nach Obdachlosen zu suchen und Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Sie hörte viele Lebensgeschichten, musste aber auch feststellen, dass keiner der vielen Menschen, die sie mehr oder weniger kennenlernte die gleiche starke Wirkung auf sie hatte wie Erich. Aber die Wirkung war kumulativ, hatte sie eine kleine Gruppe von Obdachlosen um sich, so wurde ihr ebenso warm wie wenn sie eine Stunde bei Erich war.

Ihre Erleichterung war unendlich. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was hätte sein können, wenn nur Erich zwischen ihr und der Kälte gestanden wäre.

Das Gebäude, das Elisabeth sorgfältig ausgesucht hatte, war völlig renoviert worden. Es verfügte über Schlafplätze, Sanitäranlagen, eine Küche mit Speisesaal, Aufenthaltsräume und ein Lager für Bekleidung. Mehrere Angestellte kümmerten sich um die Organisation dieses neuen Obdachlosenheims und seine Besitzerin und Geschäftsführerin Elisabeth kam, ebenso wie viele Obdachlose, regelmäßig vorbei um sich zu wärmen.

„Kälte, die dunkle Version“- SP20 #3a

Elisabeth saß auf der Parkbank neben Erich. Es war Erichs Bank. Hier verbrachte er den Tag, hier sortierte er gerne seine Besitztümer in verschiedene Behälter und Tragtaschen, im Sommer schlief er hier auch manchmal. Die Lage fand er ideal: im vorderen Bereich eines Parks, neben einem Eingang zur U-Bahn für die ganz kalten Tage und gegenüber ein Supermarkt mit großen Containern in denen täglich eine Überfülle an Esswaren landete. Die Angestellten ließen die Tore zum Müllplatz manchmal unversperrt, aber darauf war Erich nicht angewiesen. Er hatte es über viele Wege und Windungen aus seinem alten Leben zu einem Schlüssel zu dem üppigen Müllplatz gebracht. Eigentlich war er das, was man in der Leistungsgesellschaft einen tüchtigen Menschen nannte. Er schöpfte die begrenzten Möglichkeiten seiner aktuellen Lage voll aus.

Die junge Frau, die uneingeladen aufgetaucht war, kannte er schon seit ein paar Monaten. Als sie sich das erste Mal auf seine Bank setzte, wollte er grob werden und seine Besitzansprüche ganz deutlich machen, aber sie schlotterte vor Kälte und war nicht in der Lage weiterzugehen. Seltsam sah sie aus für einen Platz auf dieser Parkbank. Seltsam war auch, dass ihr Schüttelfrost langsam aufhörte, dass sie nach einer Weile sogar ihre Jacke auszog, den langen Schal über die Lehne der Bank hängte. Die Handschuhe landeten in ihrer Tasche und sie schaute sich um.

In der näheren Umgebung war Erich nicht der einzige Parkbankbewohner. Etwas weiter hinten hatten Marianne und Oskar zwei Bänke nahe nebeneinander geschoben und ihren Einkaufswagen aus dem Supermarkt dazwischen geparkt. An manchen Tagen wurden die Bänke von einem Parkaufseher oder sonst jemandem wieder auseinandergestellt. Es blieb nicht lange so.

Mit etwas gutem Willen und großzügiger Auslegung des Begriffs konnte man Marianne und Oskar als Paar bezeichnen. Beide waren sie auf ihre Art verschroben und eigenbrötlerisch und kamen selten mit jemandem länger aus. In ihrer Beziehung zueinander machten sie da gelegentlich eine Ausnahme. Wenn sie auch nicht gerade ein harmonisches Paar waren, so fanden sie doch immer wieder zusammen und es gab auch Tage an denen sie gemeinsam Erich besuchten und zu dritt die nächtlichen Erwerbungen aus den Supermarktcontainern genossen. So viel sozialer Umgang reichte ihnen dann aber für eine Weile und oft zogen sie dann auch getrennt durch andere Bezirke.

Elisabeth erinnerte sich gut an diesen ersten Tag auf der Parkbank. Sie brauchte eine Weile bis sie Erichs unfreundliche Blicke bemerkte. Die Kälte hatte sie völlig eingeschlossen, von der Welt isoliert. Ihre Knochen und Gelenke fühlten sich an wie vereist und nahe am  Splittern. Sie hatte so stark gezittert, dass sie sich kaum noch in der Lage gefühlt hatte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, nicht einmal für die wenigen Schritte, die vor ihr lagen. So fiel sie auf die Parkbank und klammerte sich an die Lehne in der Hoffnung das Zittern dadurch etwas einzudämmen. Und wirklich wurde ihr nach einer Weile langsam immer wärmer, eine Energiewelle durchflutete ihren Körper, ihre Temperatur stieg an, Muskeln und Sehnen wurden wieder geschmeidiger. Sie begann sich umzusehen. Und nach einer Weile hatte sie sich so gut aufgewärmt, dass sie weitergehen konnte.

Zum ersten Mal seit langer Zeit erschien ihr der Marmorboden ihrer Eingangshalle nicht als unendliche, kalte Fläche, die sie wie eine Polarforscherin mit letzter Kraft durchqueren musste. Sie sah wieder die feine rosa-graue Marmorierung im weißen Stein und die schönen Proportionen des Raums, der Schwung des Jugendstil-Geländers der Treppe in den ersten Stock fiel ihr auf und die Schattenmuster an den Wänden der Galerie. Sie war zuhause und es war ihr nicht kalt.

Doch nach ein paar Tagen war alles wie vorher, die Kälte hatte sie wieder eingeholt. Der Schüttelfrost kam immer wieder, unter mehreren Daunendecken und mehreren Schichten von Bekleidung bei 25 Grad im Raum fror sie auch nachts erbärmlich.

Bei den zahlreichen Untersuchungen, die sie in den letzten Wochen absolviert hatte, konnte nichts weiter festgestellt werden als eine starke Untertemperatur, deren Ursache nicht geklärt werden konnte. Die Kälte war schlimm, noch schlimmer war, dass ihre Beziehungen und Kontakte zu anderen Menschen immer weniger wurden, dass die Kälte sie in jeder Hinsicht isolierte.

Auf ihrem Weg von der Privatklinik, auf die sie so große Hoffnungen gesetzt hatte, bis zum Parkplatz wo ihr Auto mit oder ohne Chauffeur auf sie wartete, musste sie den Park mit Erichs Bank durchqueren. Mehrmals schon hatte sie sich zu ihm gesetzt und jedes Mal trat der unerklärliche Erwärmungseffekt ein, der dann ein paar Tage andauerte. War die Erwärmung auf die Klinik zurückzuführen? Das konnte nicht sein, denn dort wurden nur Untersuchungen durchgeführt. Zufälle, deren Ursache nicht ergründet werden konnten? Zyklische Vorgänge im Organismus? Oder vielleicht doch der Park, die Bank, der Obdachlose? War es aber der Ort, oder die konkrete Person, oder jeder Obdachlose?

Elisabeth suchte verzweifelt nach Lösungen. Die Medizin hatte ihr nichts zu bieten, so wendete sie sich der Psychologie zu und konsultierte mehrere Größen auf diesem Gebiet. „Überschießende Psychosomatik“, „extreme Empathie“. Diese Diagnosen halfen ihr nicht weiter. Das Angebot eines Psychoanalytikers in Therapiesitzungen zwei- oder dreimal die Woche ihre Kindheit zu durchforsten, lehnte sie ab. Sie brauchte schnellere Lösungen.

Als junger Erbin eines sehr beträchtlichen Vermögens, die obendrein gerade ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen hatte, boten sich ihr ebenso weitgefächerte wie interessante Einstiegsmöglichkeiten ins Berufsleben. Theoretisch zumindest. Als ständig vor Kälte zitternder junger Frau, die darauf angewiesen war in regelmäßigen Abständen, ja, was eigentlich zu tun, um ihre Körpertemperatur zu halten, boten sich ihr nur sehr wenige Möglichkeiten und keine davon gefiel ihr.

Monatelang besuchte Elisabeth Erich regelmäßig. Er war einer der ganz wenigen Menschen, die sie noch regelmäßig sah. Sie begann damit, ihm kleine Geschenke mitzubringen, weil sie Angst bekam, er könnte irgendwann nicht da sein, wenn sie ihn brauchte. Jeder Zweifel, den sie jemals gehabt hatte, dass ihm ihre Aufwärmung zu verdanken war, hatte sich verflüchtigt. Elisabeth war eine strukturierte, systematisch vorgehende Frau und hatte in der ganzen Stadt nach Obdachlosen gesucht und Kontakt mit ihnen aufgenommen. Doch kein einziger von ihnen, wärmte sie durch seine bloße Gegenwart, wie Erich das tat.

Irgendwann saßen sie nicht mehr nur schweigend nebeneinander, sondern erzählten  einander ihre Geschichten. Auch Oscar kam manchmal dazu und wäre Elisabeth aufmerksamer gewesen, so hätten ihr die Blicke, die die beiden manchmal tauschten nicht gefallen.

Erichs Alter war aufgrund seiner verwahrlosten Erscheinung schwer zu bestimmen, irgendwo zwischen vierzig und fünfzig. Er nahm für sich in Anspruch völlig schuldlos von der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden und was er über sein Leben erzählte, beschränkte sich darauf, was andere getan und ihm angetan hätten. Oscar dagegen war alkoholkrank und hatte dadurch die Kontrolle über sich und sein Leben langsam verloren und war schließlich nach einer Scheidung und dem Verlust seines Arbeitsplatzes auf der Straße gelandet. Erich trank nicht und wusste auch immer sehr genau, was er tat. Auch Elisabeth erzählte. Und alles, was sie zu erzählen hatte, hätte vielleicht auch bei gefestigteren Charakteren als Erich und Oscar es waren, Begehrlichkeiten geweckt.

Ihr war nicht kalt, als sie frühmorgens das schmierige Hotel verließ, in dem sie mit Erich und Oscar eine alptraumhafte Nacht verbracht hatte. Sie wiederholte sich immer wieder, dass ihr nicht kalt war und dass sie irgendwie eine Lösung finden würde. Irgendwie musste sie Erich loswerden aber die positive Wirkung, die er auf sie hatte gleichzeitig behalten. Sie saß in ihrem kürzlich renovierten blau-weißen Esszimmer mit Blick auf den Garten, in dem zwei Gärtner arbeiteten und starrte mit leerem Blick auf die Rosen. „Und vergiss nicht nächstes Mal das Geld mitzubringen“ hatte ihr Erich noch nachgerufen „200.000“

 

Schreibprojekt 2020

Gefühlt ewig habe ich mit dem Text „Kälte“ verbracht. Die Idee war einfach und ich hätte nie gedacht, dass sich die Sache so lange dahinziehen würde.

Die Schwierigkeit war das Ende. Ich sah drei verschiedene Möglichkeiten und konnte mich nicht entscheiden, wie die Sache nun ausgehen sollte. Daher habe ich zwei verschiedene Versionen des Endes geschrieben, eine tragisch-ausweglose und eine mit Happy-end. Zuerst kommt die finstere Version, dann die positive.

Gekämpft habe ich mit meiner mangelnden Disziplin. Die Figuren wären alle sehr ausbaufähig, nur haben sie mich letztlich nicht ausreichend fasziniert um ihnen noch ein paar tausend Wörter zu widmen. Eine Weile gefeilt habe ich auch an den Zeitverhältnissen am Anfang des Textes. Sieht  ganz einfach aus, war es aber nicht.

Womit ich mich gerne beschäftigen möchte, ist der Aufbau einer längeren Geschichte. Einfach linear zu erzählen von Anfang bis Ende ist auch eine Möglichkeit, vor allem bei sehr kurzen Texten, ist aber auf die Dauer langweilig, zum Lesen und zum Schreiben. Es braucht zumindest ein paar Schleifen oder verschiedene Zeitebenen, oder verschiedene Erzählperspektiven mit parallel laufenden Handlungen.

Oder, oder, oder ……..

Betrachtungen zu meinem Schreibprojekt 2020

Sehr kurze Texte, wie die 300-Wörter-Etüden sind einfach zu schreiben, vieles wird nur angedeutet, kann nur angedeutet werden, komplexere Zusammenhänge können gar nicht ausgeführt werden. Aus einer kleinen Idee kann man einen kompakten, kohärenten Text machen. Es ist auch interessant zu sehen, was man mit wenigen Worten transportieren kann. Auf jeden Fall ist es eine Übung für eindeutige Formulierungen und für die sprachliche Vereinfachung von Komplexität

Wird der Text länger, so tauchen Kreuzungen und Scheidewege auf. Es müssen Entscheidungen getroffen werden, ob die Dinge sich nun so oder so verhalten, die Personen müssen glaubwürdig agieren, es taucht die Idee auf, einen weiteren Handlungsstrang zu entwerfen und mit dem Hauptstrang zu verflechten. Insgesamt muss zumindest ich dabei viel mehr denken als bei einem Minitext, den ich ohne Planung  herunterschreibe.

Es stellt sich die Frage, was mir nun mehr Freude macht. Das ist noch nicht entschieden. Mir kommt vor, dass es sich um ziemlich verschiedene Schreib-Tätigkeiten handelt. Ich bastle an einem Text namens „Kälte“ und weiß noch nicht recht, wie kompliziert ich ihn anlege und wie genau sich das Grundproblem lösen lässt. Vieles kann auch in der Schwebe bleiben bzw der Phantasie der Lesenden überlassen, aber nicht allzuviel, es soll ja nicht ein Rätsel sondern eine Geschichte herauskommen.

Was mich auch sehr interessiert, ist, wie sich die Ideen für eine Geschichte aus dem eigenen Alltag entwickeln.

Im Museum – SP2 – Real-Surreal

Peinlich war es mir, so wenig von Richard Gerstl gehört zu haben. Immerhin der erste österreichische Expressionist, vor Schiele, vor Kokoschka. So nutzte ich die Gelegenheit, eine Gerstl-Ausstellung im Leopold Museum sehen zu können. Eine Gerstl-Ausstellung, wohlgemerkt, nur Gerstl, keine Gefahr und  ein hoffentlich harmloser Maler mehr, dessen Bilder ich mir gelegentlich ansehen könnte Vorsichtshalber studierte ich das Bild auf dem Ausstellungsplakat nochmal genau . Es kann nicht dieselbe Wirkung haben wie ein Original, aber es hilft mir doch. Ja, wie erwartet, ich kann es lange ansehen, ja, es ist recht interessant, der Pinselstrich, der Ausdruck, und ich stehe ganz solide, wie andere Leute auch und betrachte ein Bild. Dann kann ich weitergehen zum nächsten Bild, ein Video über den Maler sehen, weitere Bilder sachkundiger betrachten, einen Stopp in der Cafeteria machen, einen Katalog kaufen. Ein völlig normaler Museumsbesuch wie früher.

Schön ist das Leopold-Museum im Wiener Museumsquartier, ein Gebäude, das konzipiert wurde um Kunst auszustellen. Ich bin hier um mir Gerstl anzusehen. Es ist schon sehr gewagt, aber die Ausstellung ist nur in einem Stockwerk. Direkt vom Eingang dorthin und wieder zurück, ohne Umwege.

Panik! Wieso hängt hier ein Munch?  Nur schnell vorbei! Gerade noch geschafft. Ich lasse mich im nächsten Saal auf die Bank fallen. Indigniert schaut mich ein junges Paar an, beide mit dem Audio-Guide am Ohr, beide konzentriert lauschend und schauend. Eben Leute, die sich an einem Ausstellungsbesuch erfreuen können. Im nächsten Saal ein Paar Figurendarstellungen von Gerstl, die mir zum Glück überhaupt nichts sagen, ein paar Landschaftsbilder vom Traunsee, die mir recht gut gefallen. Aber der Munch hat mich erschreckt, eines von den Vampirbildern. Besser wird es sein, ich gehe jetzt. Nicht nur einen Munch habe ich gesehen auch Werke von anderen Malern. Warum habe ich nur nicht daran gedacht, dass es im Kunstbetrieb gerade üblich ist, möglichst viele Referenzwerke zu dem eigentlichen Ausstellungsthema dazuzuhängen. Hoffentlich komme ich hier gut hinaus. Mein Gott, Expressionismus!

Ich visiere den nächsten Saal an. Zurückgehen hat jetzt keinen Sinn mehr, ich weiß ja wo der Munch hängt. Also in die andere Richtung. Durch den Torbogen sehe ich, dass im nächsten Saal Portraits hängen. Wahrscheinlich von Gerstl. So gut kenne ich ihn nicht, dass ich das von weitem sehen könnte. Portraits, keine Figuren, keine Akte, vielleicht schaffe ich es. Ich beschließe ganz schnell und zielgerichtet durch den Saal durchzugehen, auf der anderen Seite hinaus, dort ist die Garderobe. Gerettet wäre ich für heute. Ich gehe also geradeaus, schaue nicht rechts noch links, nur den Ausgang im Blick. Nur ein paar Schritte stur geradeaus. Dann kommt mir jemand entgegen, der auch nur einen Punkt irgendwo hinter mir anvisiert hat, wir stoßen zusammen, durch den Schwung drehe ich mich gegen die Wand neben dem Eingang, die ich von draußen nicht sehen konnte und dort hängt Egon Schiele „Selbstbildnis mit hochgezogener nackter Schulter“ 1912.

Ein Schiele und ich stehe direkt davor, und er zieht und zieht und es ist zu spät …

Er hat ein Bein über mich gelegt und schläft auf dem Bauch. Ich versuche unter ihm herauszukommen. „Egon“ rufe ich „Egon“. Der Morgen graut und womöglich ist es ein Morgen im Jahr 1918 und die spanische Grippe greift schon nach uns. Bin ich diesmal Wally Neuziel oder Edith Schiele oder eine ganz andere? Was passiert, wenn ich hier sterbe?  Edith Schiele war schwanger und starb ein paar Tage vor ihrem Mann. Und Wally Neuziel? Ich weiß es nicht. Das hätte ich doch vorsichtshalber herausfinden können bevor ich mich ins Leopold-Museum gewagt habe. Hier hängt die weltweit größte Schiele-Sammlung. Was für ein Wahnsinn, hierher zu kommen. Nach allem. Was für ein Wahnsinn !

Im Hintergrund höre ich das Martinshorn einer Ambulanz. Haben die damals schon genauso geklungen? Jemand packt mich an den Schultern und zieht mich hoch. Aber wohin? Es ist  nicht Egon. Egon sieht seltsam durchscheinend und unwirklich aus, schläft immer noch und hält mich fest, so dass ich mich nicht bewegen kann.

„Wie geht es Ihnen? fragt jemand. Kann das Egon sein? Nein, der hat sich nicht bewegt und würde doch auch nicht „Sie“ sagen, oder? „Können Sie mich hören?“  „Natürlich“ will ich sagen, aber es geht nicht. Das Bild mit der hochgezogenen Schulter sehe ich auch. Warum der Egon es nicht in seinem Atelier hängen hat? Komisch. Vielleicht ist es gerade fertig geworden und er wollte es mir zeigen. Dann wären wir 1912 und es blieben mir sechs Jahre um mich von hier zu befreien. Dann wäre ich doch die Wally, mit der er bis 1915 gelebt hat? Und was ist dann mit mir passiert, während des Kriegs und später während der Grippeepidemie?

Was ist jetzt los, wer sind denn diese Leute? Wieso sind sie alle hier in unserem Schlafzimmer und greifen mich an? „Egon“ rufe ich „Egon, so wach doch auf!“ Ich sehe ihn kaum noch.

Wie komme ich nur aus diesem Museum, dieser Zeit, diesem Leben hinaus?

Betrachtungen zum Text Nr.2

Wie es aussieht, wird sich mein Schreiben nach ähnlichem Prinzip wie mein Malen abspielen: kein Plan, einfach einmal drauflos. An einem Punkt beginnen und daraus das Ganze entwickeln ohne dass vorher klar ist, wohin die Richtung geht. Und wenn ich einmal einen Plan habe, wie bei der folgenden  Museumsgeschichte, sieht das Ergebnis letztlich völlig anders aus.

Dies sollte eine Fantasy-Geschichte werden, weil ich fand, dass das ein einfacher Einstieg wäre. Es ist anders geworden, ich bin aber zufrieden mit dem Ergebnis. Immer bilde ich mir ein, ich könnte doch die Dinge nicht einfach so laufen lassen, wie sie laufen, sondern müsste einen Plan und ein Konzept und eine theoretische Grundlage haben. Gar nix muss ich! Die Phantasie oder Kreativität oder wie immer man diese Kraft nennen mag, funktioniert von selbst. Man muss sie nähren, mit Sinneseindrücken, Informationen, Überlegungen aber die Ausformung funktioniert irgendwie von selbst.

Und warum sollte ich mich – gegen meine Natur – um eine Vorgangsweise bemühen, die für andere gut und schlüssig sein mag, für mich aber schlecht funktioniert. Was habe ich nicht diesbezüglich für Kriege mit meiner Malmeisterin ausgetragen! Letztlich habe ich bei der Auseinandersetzung viel gelernt, nur nicht das, was sie mir unbedingt vermitteln wollte. Ich habe mich damit auseinandergesetzt, wie andere an ein Bild herangehen und meistens festgestellt, dass es mir so gar keine Freude macht und ich auch ganz schlecht bin bei der Erstellung eines Konzepts für einen kreativen Vorgang. Der Weisheit letzter Schluss für mich war, dass ich darauf pfeife, was andere Leute – inklusive der Malmeisterin – tun und vorschlagen und nach meinem eigenen Gefühl vorgehe. Ja, und was dabei herauskommt, hat mir nicht nur mehr Freude gemacht sondern ist auch besser als das Fremdbestimmte.

Beim Schreiben ist es insofern anders, als es da niemanden gibt, der/die mir dreinreden wollte. Womöglich wäre ein Schreibseminar oder etwas in die Richtung gar nicht das richtige für mich. Womöglich würde ein sogenannter Schreibanstoß bei mir ähnliche Aggressionen wecken wie die Übungsvorgabe „malen wie …  (irgendein Maler)“ Meine Malmeisterin liebt es, im Stil von irgendjemandem zu malen. Ich kann das gar nicht leiden. Ein bisschen konstruktive Kritik wäre natürlich schön …

Zwischenbilanz

Seit Tagen schreibe ich an einer Geschichte, in der dieses Bild eine wichtige Rolle spielt. Es zieht sich dahin, weil ich mich nicht längere Zeit damit beschäftigen kann und den flow jedesmal wieder neu suchen muss.

Interessant finde ich, dass Geschichten, je näher sie dem Leben kommen, umso schwieriger zu schreiben sind. Eine Fantasy-Geschichte ist extrem einfach zu schreiben, ein Krimi fast noch einfacher, aber eine Geschichte aus dem Leben, weder kitschig noch an den Haaren herbeigezogen, in der keine Leichenteile herumliegen und deren Figuren glaubhaft sind, deren Sprache das richtige Register zum Thema findet und durchhält ….. Puh, das ist um einiges schwieriger. Bei der Geschichte, in der das Bild vorkommt, habe ich es mir noch leicht gemacht. An der nächsten werde ich dann feilen …

Mutation – SP1

MUTATION

Nicht jeder wohnt wie ich. Der Duft der Geschichte in jahrhundertealten Gängen bleibt wenigen vorbehalten, dieser ganz eigene Geruch des alten Holzes, die verschiedenen Stilrichtungen in denen meine Vorfahren die Gänge angelegt haben. Vor allem der Hauptgang des Urgroßvaters ist bemerkenswert.

Der Urgroßvater war eine Schlüsselfigur in unserer Familiengeschichte denn er hat allen seinen Nachkommen eine seltsame und ungewöhnliche Eigenschaft vererbt: er hasste Eicheln. Sie waren ihm so zuwider, dass ihr Geruch ihn dazu brachte sich tief in seine selbstangelegten Gänge zurückzuziehen. Diese Eigenschaft war so ungewöhnlich, dass sie zu einer regelrechten Abspaltung unserer Familie von der weiteren Verwandtschaft führte, die die besondere Wertschätzung der Eicheln seit Jahrhunderten hochhielt.

Es gibt einen alten Mythos, der besagt, dass die Verehrung der Eichen und Eicheln es unserem Geschlecht irgendwann erlauben wird, unsere Burgen in Frieden zu  verlassen, weil unser schlechter Ruf dann getilgt sein wird. Unser schlechter Ruf beruht aber auf Angst, der abergläubischen Angst  der Feinde.

Natürlich hat ein vornehmes altes Geschlecht wie das unsrige Feinde. Es gab sie immer schon, doch zu Zeiten meiner Großmutter begannen die Kampfhandlungen besonders intensiv zu werden. Zwar gelang es dem Feind nie in unsere Behausung einzudringen, aber die Belagerungstaktik wurde immer raffinierter, immer aggressiver. Aufgrund unserer Zwistigkeiten wegen der Eicheln kam keinerlei Unterstützung von der weiteren Verwandtschaft, die obendrein zu ihrem Unglück einen Ausfall aus ihren Burgen gemacht hatte. Viele starben, auch bei uns.  Meine Großmutter aber war stark. Obwohl sie unter  den feindlichen Angriffen sehr litt, überlebte sie und erholte sich immer wieder. In einer Zeit, in der unsere Familie fast ausgestorben war, gelang es ihr, einen Teil ihrer Nachkommenschaft aufzuziehen und so blieb unsere Burg, unbemerkt vom Feind, immer bewohnt.

Doch diese traurigen Zeiten sind überwunden. Meine Mutter war eine der neuen Generation, der der Feind kaum mehr etwas anhaben konnte. Trotz ständiger Angriffe, ist sie gesund und vital ebenso wie meine Geschwister und ich. Bisher war das Leben sehr ruhig, sehr beschaulich, doch heute hatte ich ein beunruhigendes Erlebnis.

 

 

Markus und Sabrina spazierten durch den Schlosspark. Seit Monaten arbeiteten sie an der Renovierung des alten Schlosses. Es gab kaum etwas an dem Gebäude, das nicht dringend restauriert oder erneuert werden musste. In den letzten hundert Jahren hatte es der Familie sowohl an Geld als auch an Motivation gefehlt. Markus hatte beides und war bereit, einiges zu tun um dem Familiensitz wieder zu Glanz zu verhelfen.

„Du reibst schon die ganze Zeit an deinem Finger herum“ sagte Sabrina

Markus betrachtete seinen Finger und sah, dass er noch weiter angeschwollen war und eine ungesunde Farbe angenommen hatte.

„Ich weiß auch nicht“ sagte er „irgendwas muss mich gebissen haben. Komisch, ich habe mir nur das  Tor zu den Stallungen angesehen. Das mit den Schnitzereien und den vielen Holzwurmlöchern.“

„Holzwürmer beißen nicht. Und nach den Tonnen von Eicheln, die wir gestreut haben um die Viecher herauszulocken und dem literweisen Gift, das wir in die Gänge gesprüht haben, kann da keiner überlebt haben. Außer vielleicht ein besonderer Held der Holzwürmer. Dass der dann was gegen dich hat, kann man ja verstehen.“

Sie gingen lachend weiter.

 

 

Ich kann gar nicht beschreiben, was mich im Außenbereich der Burg so anzieht und mich dazu drängt die geschützten alten Gänge zu verlassen. Ich bin viel größer als alle anderen, einige meiner Geschwister haben sich schon verpuppt und ich werde das wohl auch bald tun. Da ist dieser Traum, diese Vorstellung von der Umwandlung in der Larve und dann dem Hervorbrechen, dem Flug aus der Burg hinaus und dem Zusammentreffen mit dem Feind.

Ich habe ihn heute kennengelernt, er hat einen Teil seines Körpers über die Öffnung  eines Ganges gelegt und ich habe zugebissen als wäre es ein Stück junges Holz gewesen. Und dann verstand ich wohin es mich zog, ich verstand die Träume und den Drang nach außen. Dieses winzige Stück Feind, das ich abgebissen hatte, dieses winzige Stück Fleisch schmeckte so, dass ich nie wieder hätte aufhören können davon zu essen, wenn der Feind sich nicht wegbewegt hätte. Dieser Geschmack, der mich so stark machen würde und so klug, niemals wieder würde ich aufhören können, diesem Geschmack zu folgen und meinen Nachkommen würde es wohl ebenso gehen.

 

 

Sabrina ging unruhig auf dem Korridor der Intensivstation des  Krankenhauses auf und ab. Markus war in sehr schlechtem Zustand eingeliefert worden. Ein unbekanntes Gift überflutete seinen Körper, begann die Nerven zu lähmen. Seine Hand war angeschwollen und er fühlte sie nicht mehr. Die Ärzte waren ratlos.

 

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