Schlagwort: zeitgenössische Literatur –

77. Station meiner Literatur- und Kunstweltreise – Rwanda und Burundi

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Schon vor einer Weile habe ich dieses Buch fertig gelesen. Ich hatte es zwischen die chassidischen Juden in Brooklyn und die neuesten Forschungsergebnisse über Neandertaler eingeschoben, weil ich sehr neugierig war.

Die Ich-Erzählerin ist eine Tutsi aus Rwanda, die schon als Jugendliche oder junge Erwachsene als Asylantin im Nachbarland Burundi lebt und dort eine Schule für Sozialarbeiterinnen besucht. Ihr Vater meint, wohl zurecht, dass eine Tutsi in Burundi nur über Schulbesuch, Bildung und den Erwerb eines Diploms überhaupt überleben kann und so finden wir zu Beginn der Erzählung die Protagonistin als eine von vielen Flüchtlingen aus Rwanda in Burundi.

Eine Kurzbiographie von Scholastique Mukasonga aus der für solche Zwecke unerreichten Wikipedia:


Mukasonga wurde 1956 in der damaligen Provinz Gikongoro in eine Tutsifamilie geboren. Sie musste schon in ihrer Kindheit die Gewalt und Demütigungen des ethnischen Konflikts in Ruanda erfahren. 1960 wurde ihre Familie mit anderen Tutsi nach Nyamata deportiert. Bevor sie 1973 nach Burundi ins Exil vertrieben wurde, ging sie ins Lycée Notre-Dame de Citeaux in Kigali, wo sie im Rahmen der Quote von 10 % für Tutsi aufgenommen wurde, und in eine Schule für Sozialarbeit in Kigali. Ihre Erlebnisse im Lycée spiegeln sich im Buch Die Heilige Jungfrau vom Nil. In Burundi schloss Mukasonga ihre Ausbildung zur Sozialarbeiterin ab und arbeitete dann für die UNICEF und die Weltbank. Sie heiratete einen Franzosen, ging mit ihm nach Dschibuti und 1992 nach Frankreich.[1] Ihre Zeit in Burundi, Dschibuti und den Beginn ihres Lebens in Frankreich schildert sie in dem autobiographischen Roman Un si beau diplôme! Sie lebt heute mit ihrer Familie in der Normandie. Ein Großteil ihrer Familie fiel dem Völkermord in Ruanda 1994 zum Opfer.

Vieles an diesem Roman, der eigentlich kein Roman ist sondern eine Art stark verlängerte Kurzgeschichte, hat mir zunächst nicht gefallen. Alle Figuren sind unglaublich flach, sie werden nur kurz aus den Schatten herausgeholt um ein paar Sätze über sie zu sagen, dann verschwinden sie wieder. Die einzige Ausnahme ist vielleicht der Vater. Die Mutter und die Geschwister ebenso wie der Ehemann und die Kinder, andere Verwandte, Freundinnen, sonstige Menschen, die in ihrem Leben vorkommen, bleiben unscharf umrissene Schatten. Dennoch habe ich den Text gern gelesen.

Es gibt nur einen Erzählstrang. die Geschichte der Ich-Erzählerin und ihres Diploms, das eine Art Leitmotiv ist, das im Laufe der Geschehnisse durch ein weiteres Diplom verstärkt wird. Die Handlung beginnt in ihrer Zeit als Schülerin in Burundi, überspringt dann sehr viel, setzt bei ihrem Leben in Frankreich und Dschibuti wieder ein und kommt schließlich zum emotionalen Höhepunkt der Erzählung: ihr(e) Besuch(e) in ihrem Heimatort in Rwanda nach dem Genozid, nachdem praktisch ihre ganze Familie und ihre Freunde ermordet wurden.

Der in ein Genozid mündende Konflikt zwischen Tutsis und Hutus war das Thema, das ich in diesem Buch erwartet habe und das natürlich auch vorhanden ist. Es wird aber auf eine sehr leise Art erzählt, in manchen kleinen Szenen und Nebensätzen bis es am Ende des Buchs gewaltig aufsteigt.

Das Buch beginnt mit dem Thema Diplom

„J´ai passé la moitié de ma vie à courir aprés un diplôme. Ce n´était pourtant pas une thèse de doctorat (…) mas un modeste diplôme d´assistante sociale“ p. 11″
Ich habe die Hälfte meines Lebens damit verbracht einem Diplom nachzujagen, nicht einem Doktorat sondern einem bescheidenen Abschluss zur Sozialarbeiterin.

Die Autorin erzählt, dass sie als Kind in der Schule täglich ein vom Lehrer verfasstes Lied singen musste, in welchem ein gewisser Fidèle Rwambuka geehrt wurde, ein lokaler Held, der als erster Einwohner seiner Ortschaft ein Diplom erworben hatte. Der Text des Liedes (in freier Übersetzung wie alle Textstellen) :

Fidèle Rwambuka!
Seien wir stolz auf ihn!
Feiern wir seinen Heldenmut!
Das schöne Diplom (idipolomi), er hat es in Gisaka erworben
und mit nachhause gebracht
Er ist der Sohn von Mihigo
er ist hier geboren, er ist von hier, aus Musenyi
Hurra, hurra, hurra
Sei unser Held für immer.

Aufgrund dieses Diploms – niemand weiß, um welche Art Diplom es sich da handelt- wird Fidèle Rwambuka Bürgermeister.
Die Autorin erzählt, wie stolz sie als Kind dieses Loblied gesungen hat, aber …

„Comment aurais-je imaginé qu´en1992 il serait le premier à organiser le massacre des Tutsis de Nyamata, prélude au génocide de 1994“ p.12 (Wie hätte ich ahnen können, dass er (Fidèle Rwambuka) 1992 der erste sein würde, der das Massaker der Tutsis in Nyamata organisierte, das Vorspiel zum Völkermord von 1994!

Nur in Nebensätzen erfahren wir doch einiges über das Genozid und die vorangegangene Situation in Rwuanda und Burundi. Zum Beispiel, dass auf den Personalausweisen TUTSI stand, wodurch für die Besitzer dieser Ausweise im besten Fall nur viele Türen verschlossen blieben.

Der Stil der Autorin ist, im Großen und Ganzen eher kühl und unemotional. Die Ausnahme ist ein sehr starkes Kapitel in dem beschrieben wird, wie die Erzählerin Jahre nach dem Massaker in ihren Ort, Nyamata zurückkommt. Sie sucht die Parzelle auf der das Haus ihrer Eltern stand und den Standplatz ihres Vaters auf einem Markt.

Kanzenze, cétait le nom que les autorités avaient attribué à Nyamata. Un témoin disait au journaliste "À Kanzenze les vivants sont le dixième des morts". Cela signifiait, traduisait le journaliste, que neuf personnes sur dix avaient été tuées. À la fin du mois de juin, une lettre m´apprendrait qu`à Gitagata c´était dix sur dix. p.169
(Kanzenze war der Name, den die Behörden Nyamata gegeben hatten. Ein Zeuge sagte zu einem Journalisten „In Kanzenze sind die Lebenden ein Zentel der Toten“ Was bedeutete, so übersetzte der Journalist, dass neun von zehn Menschen getötet worden waren. Ende Juni sollte ich einen Brief erhalten, der mir mitteilte, dass es in Gitagata zehn von zehn waren.“

Man erfährt, dass die Erzählerin mit einem in Rwanda lebenden und arbeitenden Franzosen verheiratet ist und mit ihm mindestens zwei Kinder hat. Auch das wäre ein interessantes Thema gewesen, wird aber zumindest in diesem Buch nicht verfolgt. Eine einzige Szene beschäftigt sich mit den Kindern. Die Autorin schreibt, dass ihre Kinder schließlich auch Tutsis seien und somit Anspruch hätten auf die besonders gute Milch der Rinderherden des Volks der Tutsis. Aus diesem Grund fährt sie mit ihrem Mann immer wieder illegal nachts über die Grenze nach Burundi zu einem der wenigen noch vorhandenen Tutsi-Rinderhirten und kauft bei ihm frische Milch. Der Freundeskreis des Paars findet diese Ausflüge geradezu selbstmörderisch gefährlich, findet aber kein Gehör.

Es gibt auch noch andere Abschnitte, die mich beeindruckt haben. Etwa die eher witzige Erzählung über die Ferienzeit, die die Autorin gemeinsam mit einer Freundin bei deren Bruder verbracht hat, der so eine Art Mädchen für alles bei einer europäischen Dame ist. Oder auch die Erzählung davon, wie in Frankreich ihr hochgeschätztes Diplom nicht anerkannt wird und sie nach zahlreichen Besuchen bei Behörden und Beratungsstellen erkennt, dass ihr nichts anderes übrig bleibt als die Sozialarbeiter-Ausbildung nochmals zu machen.

Dieses Buch ist für mich die Fortsetzung einer Reihe von Texten von afrikanischen Autor*innen, die ich – immer mit Dazwischenschalten anderer Lektüre- konsumieren werde.

68. Station meiner Literaturweltreise – Norwegen

ABKÜHLUNG

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Ich interessiere mich sehr für den „großen Norden“ wie die Franzosen sagen, habe vieles darüber gelesen und gesehen. An „Amundsens letzte Reise“ von Monica Kristensen konnte ich daher nicht vorbeigehen. Einmal ganz abgesehen davon, dass bei den derzeitigen Temperaturen das Lesen über Schnee und Eis gerade richtig kommt.

Die Autorin dieses Buchs aus dem btb-Verlag, Monica Kristensen, ist eine norwegische Glaziologin, Meteorologin und Schriftstellerin. Sie war die erste Frau, die eine Antarktisexpedition geleitet hat. Als Polarforscherin wurde sie 1989 mit der Founder’s Medal der Royal Geographical Society ausgezeichnet. Offenbar eine sehr vielseitige Frau, denn sie hat auch eine Krimireihe geschrieben, die in Svalbard spielt, einem Archipel zwischen dem Atlantischen und dem Arktischen Ozean.

Das Buch bewegt sich rund um das Jahr 1928. Die Vorgeschichte dazu:

„Die Zeiten der heroischen Expeditionen mit Fellkleidung, Hundegespannen und langen Jahren der Entbehrungen, Erfrierungen und Leiden waren vorüber. Roald Amundsen ergriff die Möglichkeiten, die sich ihm boten. 1925 führte er zusammen mit einer Mannschaft von fünf Teilnehmern, darunter auch Leif Dietrichson, einen Flug mit zwei Dornier Wal-Flugzeugen von Ny-Alesund auf Spitzbergen in den Norden durch. Das Ziel war der Nordpol: Sie landeten jedoch auf 88 Grad nördlicher Breite. Ein neuer Rekord, aber eben nicht der Pol selbst. 1926 erreichte Amundsen endlich sein persönliches Ziel. Auch dieses Mal war er der Erste. Das italienische Luftschiff „Norge“, gelenkt von dem Konstrukteur selbst, Umberto Nobile, erreichte am 12.Mai 1926 um 02.20 Uhr den Nordpol“ S.15

Nach dieser erfolgreichen Expedition trennten sich Amundsen und Nobile aber nicht im Frieden. Aus meiner Sicht war es ein Problem des Zusammenstosses von zwei überzeugten Alphamännern. Das schreibt allerdings nicht die Autorin, die eine große Bewunderin von Amundsen ist.

Am 23.Mai 1928 startete Nobile mit dem Luftschiff „Italia“ eine eigene Expedition zum Nordpol bei der auch die Inselgruppe östlich von Franz-Josef-Land kartografiert werden sollte. Damals hieß sie „Nikolaus-II-Land“, heute nennt man sie „Sewernaja Semlja“. Die „Italia“ kam am Nordpol an, umkreiste ihn zwei Stunden lang und setzte dort ein riesiges Kreuz und eine italienische Fahne ab. Beim Weiterflug wurden die Wetterbedingungen aber immer schwieriger, die letzte Funknachricht kam am Freitag, dem 25. Mai und schließlich stürzte das Luftschiff ab. Dabei sprangen einige der Expeditionsteilnehmer über dem Eis ab, einige wurden bei dem Absturz getötet und einige wurden mit dem Ballon des Flugzeugs mitgerissen.

Es wird nun die Suche nach den eventuellen Überlebenden dieses Absturzes insbesondere General Umberto Nobile selbst geschildert. Die Autorin hat bis in kleine Details recherchiert. Die zahlreichen Schiffe und Flugzeuge aus verschiedenen Ländern, Italien, Norwegen, Frankreich, Schweden, Finnland, Russland werden sowohl in ihren technischen Details als auch was die Besatzung betrifft, genau beschrieben. Für meine Begriffe etwas zu genau, denn die technische Beschreibung verschiedener Flugzeugtypen und die Aufzählung der Karriereschritte der Teilnehmer an diversen Expeditionen hat mich nicht so interessiert. Das kann man aber natürlich dem Buch nicht vorwerfen.

Sehr spannend dagegen fand ich, wie die vielen beteiligten Nationen mehr oder weniger diplomatisch miteinander umgingen und wie wichtig die Nationalität der Polarforscher genommen wurde. Es war alles nicht ganz einfach, weil die Besatzung nicht unbedingt aus demselben Land kam in dem die Flugzeuge und Schiffe gebaut worden waren und auch die Rechte der Verwaltung mancher Gebiete nicht restlos geklärt war.

Amundsen wollte sich aus Motivationen, die wir wohl nicht mehr erfahren werden unbedingt an der Suche nach Nobile beteiligen und nachdem ihn weder die norwegische noch die italienische Regierung mit der Organisation einer Expedition betraute, rüstete er auf eigene Faust eine private Rettungsexpedition aus und weihte auch niemanden in seine genauen Pläne ein. Dies wurde ihm zum Verhängnis, denn auch sein Luftschiff stürzte ab und er selbst und die Teilnehmer seiner Expedition konnten im Gegensatz zu Nobiles Expedition nicht mehr gefunden werden.

„Amundsens letzte Reise“ ist auch nicht als reines Sachbuch konzipiert. Die Autorin hat auch Passagen mit Beschreibungen des Überlebens der Nobile-Expedition, wobei sie darauf verweist, dass auch diese Schilderungen alle auf Fakten beruhen. Ziemlich schaurig ist die Beschreibung des Auffindens von zwei von drei Männern, die sich von Nobiles Zeltlager entfernt hatten und versuchten zu Fuß Land zu erreichen (Nobiles Zeltlager befand sich auf einer driftenden und immer weiter schmelzenden Eisscholle) Einer der ursprünglich drei Männer war unterwegs verstorben, von den beiden übrig gebliebenen war einer fast verhungert und fast nackt, während der andere gut genährt und mit beinahe allen vorhandenen Kleidungsstücken aufgefunden wurde.

Mich hat die Schilderung eines russischen Eisbrechers besonders beeindruckt, die gewaltigen Mengen an Kohle, die so ein Schiff verbrauchte und die enorme Umweltverschmutzung, die dadurch entstand aber auch die Kraft dieser Schiffe, die beim Einsatz der vollen Kraft der Maschinen das Eis buchstäblich brechen konnten. Letztlich – nach vielen Flügen und Schifffahrten war es so ein Eisbrecher, der die Überlebenden von Nobiles Zeltlager an Bord nahm, ebenso wie die beiden verbliebenen italienischen Offiziere, die sich zu Fuß aufgemacht hatten. Jene Männer der Nobile-Expedition, die mit dem Ballon weggerissen worden waren, konnten nicht gefunden werden, ebenso wenig wie Amundsen und die französische Besatzung seines ebenfalls französischen Luftschiffs.

Ein letztes Detail oder Indiz in dieser gewaltigen Suchaktion hebt die Autorin für das Ende des Buchs auf. Es lässt aufhorchen, Theorien wurden erstellt, aber trotz etlicher Indizien konnten keine Gewissheiten gefunden werden.

Nach Überblättern von für mich nicht so interessanten technischen Details und biografischen Anmerkungen zu sehr vielen Teilnehmern verschiedener (Such)Expeditionen fand ich das Buch spannend, informativ und sehr geeignet während einer Hitzewelle gelesen zu werden

Literarische Weltreise – Station 66 – Schottland

Ich habe Schottland zum eigenen Staat erhoben, was er vielleicht irgendwann auch wird. Tatsächlich spielt dieser Roman nicht auf dem schottischen Festland sondern auf den Shetland-Inseln

Hier ist meine Literaturweltreise zu finden

Wieder ein Glücksgriff aus dem Luchterhand Verlag, schon der dritte.

„Das Tal in der Mitte der Welt“ ist ein fließendes Buch. Es fließt im Rhythmus des Lebens in einem kleinen Tal auf den Shetland-Inseln. Der Roman beginnt an einem Tag, an dem eigentlich nichts besonderes passiert und endet mitten an einem Tag, an dem sich einiges verändern könnte. Ob dies aber geschieht, bleibt offen. Die Lebensgefährtin eines der Bewohner des Tals ist aufs Festland gezogen, am letzten Tag der Handlung kommt sie zurück, ob es allerdings bei einem Besuch bleibt, erfahren wir nicht.

Der ganze Roman ist so erzählt als würde man eine Kamera und einen Scheinwerfer auf einzelne Szenen richten und wieder ausschalten. Die Geschichte läuft immer weiter, kann aber von Lesern/Zusehern nicht immer beobachtet werden und bricht schließlich einfach ab.

Es gibt nur fünf Häuser und sechs bis acht Bewohner in diesem Tal in der Mitte der Welt. Für einige ist das Leben hart und monoton, andere haben sich bewusst zurückgezogen aus ihren vorherigen Lebensumständen.

Alice, zum Beispiel, eine sehr erfolgreiche Kriminalschriftstellerin hat sich nach dem dem Tod ihres Mannes ins Tal zurückgezogen und schreibt an einer völlig anderen Art von Buch. David wiederum hat sein ganzes Leben im Tal verbracht ohne jemals anderswohin gehen zu wollen. Der alkoholkranke Terry ist vor sich selbst und seiner Verantwortung auf der Flucht …

Im Tal geschieht einiges in der beschriebenen Zeitspanne von ungefähr einem Jahr, ein Tod, ein Brand, Umwälzungen im inneren und äußeren Leben der Bewohner. Doch der Autor behält seinen behäbigen, unaufgeregten Rhythmus bei. Malachy Tallack setzt in seinem Debütroman nicht auf Spannung dafür geht die Schilderung einiger seiner Personen in die Tiefe.

„Zu der Zeit dachte er, er wisse, wer er sei, wisse was für ein Leben er führen wolle. Freiheit war die Abwesenheit von Drama, von Angst. Er hatte in seiner Kindheit genug davon gehabt, wollte es nicht mehr . Also machte er sich unempfindlich für die zerstückelte Welt. Er machte sich fest und ganz. Oder zumindest glaubte er das.
Emma stellte diesen Gedanken in Frage. Sie war der erste Mensch, bei dem er je den Wunsch – das Bedürfnis – gehabt hatte, ein paar der Schutzschichten um sich herum abzuschälen“ S 122


Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und für mich hätte es noch ein paar hundert Seiten auf dem Lebensweg der Talbewohner weiter fließen und plätschern können.

Dienstag 24. August 2021

Es wäre schön, jeden Tag einen Text schreiben zu können, der den Namen verdient. Doch dann wäre ich den ganzen Tag damit beschäftigt und dafür habe ich weder Zeit, noch Lust noch Inspiration. Also wird es wohl beim derzeitigen Rhythmus bleiben, der so ist, dass ich problemlos nebenbei immer wieder kleine Texte schreibe. Längere sind für den Blog ohnehin ungeeignet.

Es beschäftigt mich die Frage, ob ich es eigentlich mag, wenn mein Leben durch äußere Faktoren strukturiert wird. Zwei Wochen lang waren die Öffnungszeiten des Restaurants im Kurhaus die Eckpfeiler des Tages gemeinsam mit den Terminen von diversen gesundheitsfördernden Aktivitäten. Das hat mich nicht wirklich gestört, zumal das Essen köstlich war und ich die meisten Kuraktivitäten sehr genossen habe. Was ist gegen Kneipen, Lymphdrainage, Unterwassergymnastik, Wandern etc einzuwenden? Trotzdem weiß ich nicht so recht, ob ich es über längere Zeit so haben wollte.

Aus etwas anderem Blickwinkel fällt mir dazu der „Wilde“ aus Huxleys „Schöne neue Welt“ ein, der in einer Gesellschaft in der alle gezüchtet und erzogen werden um permanent glücklich zu sein, sein Recht auf Unglück, Krankheit und Alter einfordert. Eines meiner Lieblingsbücher, visionär ist die Beschreibung der Entwicklung der Gesellschaft und es lässt sich darüber ein Leben lang nachdenken. Ebenso wie über Fs absolutes Lieblingsbuch „1984“, das allerdings eine Gesellschaft schildert, an der nichts Positives zu finden ist. Ich erinnere mich, dass das Ziel der Umerziehung in „1984“ darin besteht, dass die Umerzogenen nach ziemlich grausigen Foltermethoden das, was sie davor als falsch empfanden danach wirklich gut und richtig finden. Ziemlich erschreckend.

Die Sonne war ein grünes Ei

Ein Lesetipp von Ule Rolff, für den ich mich sehr herzlich bedanke, denn diesen Text von H.C. Artmann kannte ich noch nicht und es wäre sehr schade gewesen, hätte ich ihn nicht kennen gelernt. Er kommt mir vor wie in Worte gegossener Surrealismus, aber im Stil und Rhythmus von Schöpfungsmythen geschrieben.

Eine kleine Kostprobe:

Zu anbeginn der welt entstanden aus dem nichts die kaffeemühle und der papierdrachen. Aus dem harmonischen knirschen der mühle und dem lebhaften flattern des drachens entstand der geist des himmels. Er fühlte sich erhaben und gelangweilt. Nach einer weile wurden kaffeemühle und papierdrachen über den hochmut des geistes zornig: während er schlief, fielen sie über ihn her, warfen ihn in einen abgrund. Aus dem gefallenen Geist entstand das wasser. Das war der erste zwischenraum. Eine Erde aber gab es noch nicht.

HC. Artmann „Die Erde war ein grünes Ei. Von der Erschaffung der Welt und ihren Dingen“ S34

Erstaunlich, wie schwierig es ist, ohne Großbuchstaben zu schreiben. ein Kampf gegen mühsam erlernte Automatismen

62. Beitrag zu meiner Literatur-Weltreise – Irland

Nein, es geht hier weder um Dinosaurier noch um andere Planeten. Es geht um Menschen, die aus den verschiedensten Gründen nicht in die Schubladen des Durchschnittlichen passen, die sich und die Welt als fremdartig empfinden können.

Danielle McLaughlins Kurzgeschichten „Dinosaurs on Other Planets“ kamen als ihr Debütwerk 2015 heraus, ihr Erstlingsroman „The Art of Falling“ 2021 bei Random House. . Die deutsche Übersetzung stammt von Silvia Morawetz und ist im Luchterhand Verlag, der ebenfalls zur Random House Gruppe gehört, erschienen.

ihr Erstlingsroman „The Art of Falling“ 2021 bei Random House. Die irische Autorin begann erst mit vierzig Jahren zu schreiben, gewann aber bald mehrere angesehene Literaturpreise, darunter etwa den Windham-Campbell Preis. Sie lebt mit Mann und drei Kindern in Irland, wo ihre Kurzgeschichten auch spielen.

Was mir an diesen Kurzgeschichten besonders gefallen hat, ist, dass man als Leser*in mitten in die Geschichten hinein steigt. Weder die Personen noch die Vorgeschichte werden in mehr als ein paar Sätzen vorgestellt. Man ist plötzlich mitten in der Geschichte, lebt eine Weile mit und steigt dann wieder aus. So als würde man jemanden kennen lernen, eine Zeit an seinem Leben teilnehmen und sich dann wieder trennen.

Die Texte der Autorin sprechen mich sehr an: ihre fantasievollen Metaphern, ihre Kunst in wenigen Worten eine Atmosphäre zu schaffen. Ihre Kurzgeschichten sind äußerst originell ohne dass der Eindruck entsteht, sie hätte sich den Kopf zerbrochen um noch eine ungewöhnlichere Person oder Story zu erfinden.

Ein rundes Leseerlebnis und eine äußerst vielversprechende Autorin, die ich auf jeden Fall verfolgen werde.

59. Station der Literaturweltreise – Äthiopien

Meine Literatur- und Kunstweltreise
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Francesca Melandri ist eine 1964 in Rom geborene italienische Schriftstellerin. Die deutsche Übersetzung ihres Romans „sangue giusto“ der 2017 bei Rizzoli Libri in Mailand erschienen ist, wurde unter dem Titel „Alle außer mir“ bei btb in einer Übersetzung von Esther Hansen herausgegeben.

Es beginnt damit, dass vor der Tür von Ilaria Profeti, einer römischen Lehrerin in den 40ern ein junger Äthiopier steht. Er hat sich von Addis Abeba durch die Sahara, die Internierungslager Libyens, übers Mittelmeer, die Inseln Lampedusa und Sizilien bis nach Rom durchgeschlagen und ist der Enkel ihres Vaters, also ihr Neffe.

Mit diesem Paukenschlag beginnt der Roman, eine italienische Familiengeschichte, die vier Generationen der Familie Profeti umfasst. Die Erzählung beginnt im Sommer 2010, im Italien Berlusconis und spannt eine Brücke zu Italiens unaufgearbeiteter Faschismus- und Kolonialgeschichte.

Die zentrale Figur der Familiensaga, Attilio Profeti, ist zu Beginn der Erzählung 95 und ziemlich senil weshalb er von seinen Kindern über sein Leben nicht mehr befragt werden kann. Attilio Profeti war ein italienischer Lebemann der alten Schule und hat es mit allerlei mehr oder weniger krummen Geschäften zu Wohlstand gebracht. Als junges Mädchen erfuhr seine Tochter Ilaria, dass es neben ihren beiden älteren Brüdern noch einen deutlich jüngeren Halbbruder aus einer Parallelbeziehung des Vaters in Rom gibt. Dass der alte Herr aber als junger Mann in Äthiopien 1940 auch einen Sohn mit einer Afrikanerin zeugte, ist ihr neu. Der Sohn dieses Sohnes, steht nun vor ihrer Tür.

Die italienische Kolonialgeschichte, über die hier berichtet wird, ist um nichts weniger grausam und mörderisch als andere europäische Kolonialgeschichten. Der Faschismus unter Mussolini hatte auch eine starke rassistische Komponente, die das Regime in Nord- und Ostafrika prägte. Von ihren Kolonien Eritrea und Somalia aus marschierten die Italiener in Äthiopien (Abessinien) ein. Um den Widerstand der Abessinier zu brechen, setzen sie Senfgas ein. Tausende und abertausende Äthiopier werden während der nur fünfjährigen italienischen Herrschaft getötet.

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Die Doppelmoral des italienischen Kolonialismus propagiert strengste Apartheid, tatsächlich zeugten italienische Soldaten, Siedler und Schwarzhemden eifrig Kinder mit einheimischen Frauen. Mehr noch: in den Bordellen Italiens wurden Bilder nackter Äthiopierinnen aufgehängt, um die jungen Männer für den Einsatz in den Kolonien zu motivieren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte in Italien niemand etwas von den kolonialen Schandtaten wissen, ebenso wenig wie von den Massakern, die Mussolinis Truppen in Griechenland, Kroatien oder Slowenien verübt hatten. «Die zwei blutigen Jahre der deutschen Besatzung hatten es möglich gemacht, dass eine Mehrheit der Italiener sich in einer der beiden Hauptpersonen des nationalen Bilderreigens wiederfand, entweder in dem wehrlosen Opfer oder in dem Partisanen, dem Helden des Widerstands», schreibt Melandri.

Melandri springt geschickt zwischen Gegenwart und Vergangenheiten, nur gegen Ende wird sie vielleicht etwas zu weitschweifig. Nach den Gräueln der Kolonialgeschichte und der Korruption unter Berlusconi war mir die zuletzt folgende Lebensgeschichte von Ernani Profeti, Attilios Vater, der als Bahnhofsvorsteher mit geschmeidigem Opportunismus durch den ersten Weltkrieg kommt, etwas zuviel.

Was mir gefehlt hat, war der Blick der afrikanischen Frauen auf das Geschehen. Sie werden von außen betrachtet und kommen eigentlich nicht selbst zu Wort.

Insgesamt ein höchst lesenswertes Buch über ein nicht nur italienisches, sondern auch europäisches Thema. Allerdings ist es nicht einfach diese vier Generationen Geschichte quer durch Kriege, Massaker und Elend des zwanzigsten Jahrhunderts in einem durchzustehen. Für mich war die Geschichte thematisch ein wenig überfrachtet: zwei Weltkriege, die italienische Kolonialgeschichte, der Faschismus, der Rassismus, das komplizierte Privatleben Attilio Profetis mit seinen vier Kindern von drei Müttern in zwei Kontinenten, das schwierige Privatleben Ilarias, die mit einem Abgeordneten der Berlusconi-Partei liiert ist mit dem sie weltanschaulich kaum etwas verbindet, die Flüchtlingsthematik … Es ist ein bissl viel in einem Roman auch wenn er 600 Seiten hat.

56. Station der Literaturweltreise – Neuseeland

Ein absolut faszinierendes Buch, von Anfang bis Ende.

Im Vorwort schreibt die Autorin, wie schwierig es war, einen Verleger zu finden für diesen Roman, an dem sie 12 Jahre geschrieben hatte und den sie so vollendet fand, dass sie nicht bereit war, irgendetwas daran zu ändern. Viele Verleger fanden ihn aber „zu umfangreich, zu sperrig, zu anders, verglichen mit der normalen Form des Romans. Ein Glück, dass sie nicht aufgegeben hat ! 1985 gewann sie den Booker-Preis. Heute gibt es eine deutsche Übersetzung des Romans in einem Fischer-Taschenbuch

Drei Protagonisten erleben wir. Eine Malerin, die sich mit ihrer Familie entzweit und auch den Zugang zu ihren künstlerischen Schöpfungsprozessen verloren hat, ein Mann, der zwischen zwei Kulturen lebt und ein Kind, der einzige Überlebende einer Schiffskatastrophe dessen Herkunft unbekannt ist. Diese drei Menschen, die sich zufällig getroffen haben, nähern sich einander, vergrößern die Abstände wieder, tanzen Spiralen und Kreise umeinander. Alle drei sind in der einen oder anderen Weise von ihren Wurzeln abgeschnitten, alle drei suchen nach Zusammengehörigkeit und finden sie nur in kurzen Augenblicken

Die äußeren Elemente der Handlung lassen sich in drei Sätzen zusammenfassen, die schwierigen manchmal verzweifelten Beziehungen zwischen den Protagonisten nicht.

Was mich so besonders fasziniert hat, ist Keri Hulmes Sprache, die Bilder, die sich gegenseitig zu inspirieren scheinen. Große und tiefe Bilder, die ineinander übergehen, dazwischen banalste Dialoge und sehr viele innere Monologe. Es ist nicht immer auf den ersten Blick klar, wer da gerade spricht.

Das Buch beginnt mit einem Prolog unter dem Titel „Das Ende am Anfang“. Tatsächlich werden in diesem Prolog die drei Protagonisten eingeführt. Das weiß man als Leser*in aber erst später. Ein kleines Zitat aus dem Prolog:

„Sie waren für sich selbst, nichts weiter als Menschen.
              Auch in Paaren, gleich wie gepaart, wären sie für sich selbst nichts weiter gewesen als Menschen. Aber alle zusammen sind sie Herz, Muskeln und Geist von etwas Gefährlichem und Neuen geworden, von etwas Seltsamen und Wachsenden und Großen.
             Zusammen, alle zusammen sind sie die Werkzeuge der Veränderung.“ p.17

Die Autorin und die Protagonistin Kerewin haben Maori-Vorfahren und der zweite erwachsene Protagonist, Joe stammt aus einer Maorifamilie. Dadurch erfährt man einiges über das Volk der Maori und deren Stellung im modernen Neuseeland. Die beiden erwachsenen Protagonisten kommen auch gegen Ende des Romans unabhängig voneinander mit Maori-Mystik in Berührung, was sich für beide sehr positiv auswirkt. Sehr interessant fand ich auch, dass in den Dialogen durchgehend Teile in der Maorie-Sprache*) stehen. Es gibt dazu zwar ein Glossar, aber es ist in der Reihenfolge des Auftauchens der Wendungen sortiert und ich fand es reichlich unpraktisch. Das ist aber auch schon das einzige, was ich an diesem Buch zu bekritteln habe.

Ein großes Leseerlebnis !

 

*) aus Wikipedia:  Die Sprache wurde 2006 in Neuseeland noch von rund 157.500 Menschen gesprochen, 131.600 davon maorischer Abstammung. Bei einem Bevölkerungsanteil von rund 565.300 Māori waren 2006 also nur noch 23,3 % der Māori in der Lage, die Sprache im täglichen Leben anzuwenden.

 

49. Station der Literaturweltreise – Dänemark (Grönland)

Die Weltreise: Stationen 1 bis 48 

Es ist ein Buch über Eis und Schnee, über große Kälte, über den hohen Norden und die Polarnacht, über die Kultur der Inuit, den Entdeckerdrang und die Weltausstellung in Chicago 1893. Es ist auch ein Buch über das Ende der Erde, über futuristische Gentechnologie und die letzten Menschen. Eine ungewöhnliche Familiengeschichte wird aufgerollt und aus verschiedenen Perspektiven zu verschiedenen Zeiten erzählt, wobei die genauen Zusammenhänge nicht völlig klar werden.

Es ist ein großartiges Buch. Ich habe es gleich zweimal gelesen und kann gar nicht sagen, was mir am besten gefallen hat. Die Schilderungen des hohen Nordens, des Eises und der Kälte oder jene der Arbeitsweise der Schamanen, Sprache und Schriftzeichen der Inuit, das Eintauchen in das Schiff einer Polarexpedition oder doch der Teil der Geschichte, der auf einem Eisplaneten spielt auf dem das letzte Raumschiff der Menschheit gestrandet ist und der von der Hauptprotagonistin „Winterthur“ genannt wird.

Der rote Faden der Handlung ist die Geschichte von Elaine Duval, einer Genetikerin, die eine herausragende Erfindung gemacht hat und auf dem Raumschiff reist, das die letzten überlebenden Menschen beherbergt und zu einer neuen Heimat bringen soll. Es ist auch die Geschichte des Lebens mit ihrem Großvater, dessen Mutter eine Inuit war, und der zurück nach Grönland zog, wo er seiner Enkelin die Kultur der Inuit näher brachte.

Die Handlung zieht sich durch verschiedene Zeitebenen: die Gegenwart auf Winterthur, wo Elaine der letzte überlebende Mensch zu sein scheint, ihre Kindheit und Jugend mit dem Großvater in Grönland und in der Schweiz, die Zeit der Weltausstellung in Chicago,die Elaines Urgroßmutter als junge Frau in Begleitung eines norwegischen Polarforschers erlebt, dessen berühmten Namen man erst am Ende erfährt. Die Urgroßmutter kehrt nach Abenteuern nach Grönland zurück und wird zu einer Schamanin ihres Volks. Wer der Vater von Elaines Großvater ist, erfährt man nicht, ebensowenig wie wir irgendetwas über Elaines Großmutter erfahren. Das kann man als Schwäche des Romans sehen, aber auch als Stärke: es erzeugt den Wunsch diesen Nebel zu durchdringen und den Text ganz genau zu lesen um keinen Hinweis zu übersehen.

Die sprachlichen Übergänge durch Zeit und Raum, die Assoziationsketten, den Wechsel der Zeiten und Perspektiven finde ich meisterhaft gelöst.  Obendrein lebt der Autor in Wien und schreibt somit eine Sprache, in der ich mich absolut zuhause fühle.

 

 

Lektüre in naher Zukunft

Das wird mein dritter Roman von Pascal Mercier. Einerseits haben mich die beiden anderen – „Nachtzug nach Lissabon“ und „Perlmanns Schweigen“ – sehr beeindruckt und andererseits fand ich den Klappentext zu diesem Buch unwiderstehlich. Ich freu mich schon …

Klappentext:

„Jetzt, da er wieder eine Zukunft hatte, wollte er verschwenderisch mit seiner Zeit umgehen“

Ein ärztlicher Irrtum wirft Simon Leyland aus der Bahn – und eröffnet ihm am Ende die Möglichkeit, sein Leben noch einmal völlig neu einzurichten. Pascal Merciers großer philosophischer Roman handelt von der Freiheit, unser Leben zu gestalten und von der Freiheit, die uns dabei die Literatur verspricht.“

 

47. Station der Literaturweltreise – Moçambique

Eine etwas seltsame Beziehung habe ich zu diesem Buch entwickelt. Ja, es ist gut geschrieben. Ja, es ist interessant, was die Beschreibung der Kolonialgeschichte Portugal-Moçambique betrifft, auch den Blick auf Sitten und Gebräuche einiger in der Gegend lebender Völker habe ich spannend gefunden. Mia Couto (Antonio Emilio Couto) ist obendrein ein mehrfach preisgekrönter Schriftsteller (und Biologe) aus einer in Mocambique lebenden portugiesischen Familie. Trotzdem hat mich dieses Buch so gar nicht überzeugt.

Die Handlung baut auf dem Perspektivenwechsel zwischen zwei Ich-Erzählern auf. Der eine, ein portugiesischer Kolonialoffizier, schreibt – seltsamerweise – sehr private Briefe an seinen militärischen Vorgesetzten. Die andere Perspektive ist die von Imani, einer jungen Frau, die in einer Missionsschule portugiesisch gelernt hat, und daher als Dolmetscherin verwendet wird. Ich finde beide Figuren nicht sehr glaubwürdig und auch wenig charakterisiert. Für magischen Realismus sind sie aber wiederum doch zu real.

Äußere Handlung gibt es in dem Buch kaum. Zwar herrscht Krieg zwischen verschiedenen Gruppen und Völkern, es gibt eine sehr eindrucksvolle Schilderung eines Schlachtfelds nach der Schlacht, aber mir fehlt der rote Faden. Auch das Ende bleibt völlig offen: Imani hat den portugiesischen Offizier angeschossen, der das ganze Dorf über die Absichten der Kolonialmacht belogen hat und nun fahren Imani, ihr Vater, eine plötzlich aufgetauchte Italienerin und der schwer Verletzte in einem Boot den Fluss hinunter.

„Es ist merkwürdig, wie Abschiede die Zeit verkürzen. Meine fünfzehn Jahre gehen an mir im Aufblitzen eines Augenblicks vorüber. Meine Mutter hat jetzt den Körper eines Kindes. Sie wird immer kleiner bis sie die Größe einer Frucht hat. Sie sagt zu mir: bevor du geboren wurdest, bevor du das Licht der Welt erblickt hast, hattest du schon Flüsse und Meere gesehen. Und etwas in mir reißt auf, als wüsste ich, dass ich niemals nach Nkokolani zurückkehren werde.“ p. 287

 

Besessen oder gespalten ? 46. Station der Literaturweltreise – Nigeria 3

43. Station der Literaturweltreise – Nigeria 3

 

Akwaeke Emezi

„Süsswasser“

2018

Als „poetisch“ und „verstörend“ wird dieses Buch beschrieben und da kann ich mich nur vollinhaltlich anschließen: sehr poetisch und sehr verstörend. Es ist der überaus vielversprechende Erstlingsroman von Akwaeke Emezi, 1987 in Nigeria geboren, heute in den USA lebend. Ich winde mich um das Fürwort, weil sie eine non-binäre Transgenderperson ist. Auf den Fotos, die ich gesehen habe, sieht sie aber immer weiblich gestylt aus.

In diesem Roman gibt es den Körper einer Protagonistin, Ada genannt. Die „Ich“ bzw „Wir“- Erzähler sind jedoch fast ausschließlich, die MitbewohnerInnen des „Marmorsaals“, wie ihr Kopf oder auch das Zentrum ihrer Identität genannt wird. Es sind verschiedene recht unterschiedliche Wesenheiten

„Wir kamen von irgendwoher – alles kommt von irendwoher. Wenn dieser Übergang von Geist zu Fleisch beendet ist, sollten die Tore eigentlich wieder geschlossen werden. Das wäre barmherzig, alles andere grausam.Vielleicht hatten die Götter es vergessen; manchmal sind sie so zerstreut.Nicht aus Böswilligkeit – zumindest nicht für gewöhnlich. Aber am Ende sind sie Götter und kümmern sich nicht um das, was mit Fleisch passiert, vor allem weil es so langsam und langweilig ist, fremdartig und grob. Sie schenken ihm nicht viel Aufmerksamkeit, außer wenn es gesammelt, organisiert und beseelt wird.

Als sie (unser Körper) sich in die Welt hinaus gekämpft hatte, glitschig und lauter als ein Dorf aus Stürmen, blieben die Tore offen. Wir hätten inzwischen in ihr verankert sein müssen, schlafend in ihren Membranen, mit ihrem Bewusstsein verbunden. Das wäre der sicherste Weg gewesen. Aber weil die Tore offen standen und nicht verschlossen waren gegen die Erinnerung, waren wir verwirrt. Wir waren beides gleichzeitig, alt und neugeboren. Wir waren sie und doch nicht. Wir waren nicht bei Bewusstsein, aber wir waren am Leben – genau genommen bestand das Hauptproblem darin, dass wir ein deutlich unterscheidbares Wir waren, statt ganz und ausschließlich sie zu sein.“ p.12

Die Autorin/derAutor stammt aus zwei Kulturen: Igbo (ein nigerianisches Volk) und Tamilen. Beide Völker haben eine dicht bevölkerte Geisterwelt in ihrer Tradition. Ich konnte nicht herausfinden, ob es sich bei den verschiedenen sie „reitenden“ Wesen um Gottheiten, Geister, Dämonen oder aufgrund einer Vergewaltigung in ihrer Kindheit abgespaltene Persönlichkeitsanteile handelt. Während des lesens scheint manchmal das eine wahrscheinlicher manchmal das andere. Wie auch immer, ist es ein faszinierendes, mitreißendes Buch, das ich ganz unabhängig von der Handlung auch nur wegen der Sprache mit ihren hervorragenden  Metaphern gelesen hätte.

Ich habe auch eine längere Rezension im Spiegel gefunden, falls sich jemand näher interessiert  https://www.spiegel.de/kultur/literatur/suesswasser-von-akwaeke-emezi-viele-ichs-zum-ueberleben-a-1225682.html

 

Montag 1. Juli 19 – Höhepunkt der eigentlich schon dritten Hitzewelle

Den Siegertext des Bachmannpreises habe ich gerade gelesen, „der Schrank“ heißt er, was mich nach Fertigstellung unseres Schrankes sehr amüsiert hat. Der Text gefällt mir sehr, lustig ist er allerdings ganz und gar nicht. Es geht um das Leben im Präkariat einer jungen Frau, so jung ist sie eigentlich auch nicht mehr, sechsunddreißig. Also ein Alter, bei dem man befürchten muss, dass sich ihre Lebensumstände nicht mehr entscheidend verändern könnten. Ein gesellschaftlich sehr wichtiges Thema sei das Präkariat, sagte die Autorin. Sie war bei der Preisverleihung sehr gerührt, ob es ein autobiografischer Text ist, weiß ich nicht. Er ist jedenfalls sehr realistisch und zeigt viele Aspekte einer solchen Lebenssituation auf.

Ich freu mich darauf, die anderen Texte zu lesen. Der Ingeborg-Bachmann-Preis ist immer sehr interessant, was die Texte betrifft, mit vielen Aussagen und Eitelkeiten der Juroren kann ich meistens weniger anfangen.

Mein erster richtiger Urlaubstag ist heute, gleichzeitig der bisher heißeste Tag des Jahres, es sollen bis zu 38 Grad werden. Der Wetterbericht, den ich gerade gehört habe, tröstet die Hitzegeschädigten damit, dass demnächst keine weiteren Hitzerekorde seit Beginn der Messungen im Jahre 1767 zu erwarten sind, weil die Latte im Juli etwas höher liegt als im Juni. Wenn das kein Trost ist !

Die Urlaubsplanung sieht vor, zunächst einmal zwei völlig planungsfreie Wochen zu verbringen ……

Hoch Gorelik !

Meine letzte literarische Entdeckung ist Lena Gorelik. Das erste Buch „Die Listensammlerin“ habe ich bei der „blind-date-mit-einem-Buch-Aktion“ meiner Bücherei zufällig kennengelernt und es hat mich richtig begeistert.

Dann folgte „Hochzeit in Jerusalem“, ganz anders geschrieben, ein ganz anderes Konzept. Oft leben Autoren von einem Konzept, von einem Thema, von einem Buchaufbau. Nicht so Lena Gorelik. In diesem Buch geht es um jüdische Identität, in einem originellen Plot. Auch hier eine junge Frau als Ich-Erzählerin.

 

Auch „Mehr Lila als Schwarz“ hat mich  überzeugt. Die Autorin schreibt völlig glaubwürdig vom Standpunkt einer 17-jährigen, in deren Welt man eintaucht. Freundschaft, Liebe, Schwärmerei, Erwachsenwerden ……

 

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Jetzt habe ich gerade „Null bis unendlich“ begonnen und es sieht ebenso gut aus wie die anderen.

 

 

25.Station der Literaturweltreise – Japan 2

Kazuo Ishiguro

„Als wir Waisen waren“

Heyne: 2016

ISBN 978 – 3- 453-421554

Meine literarische Weltreise

Ich habe noch keinen Ishiguro gelesen, den ich nicht großartig gefunden hätte; so auch diesen. Daher habe ich meine Zentralasienreise für einen Abstecher nach Japan bzw China unterbrochen.

Es ist eine ziemlich wilde Geschichte, die hier erzählt wird. Ein junger Engländer ist in den 1930er Jahren in London als Detektiv sehr erfolgreich. Über diese Tätigkeit erfährt man aber nichts und sie ist auch für die Geschichte nur insofern relevant als man als Leser annehmen kann, dass  der Erzähler im Bereich der Recherchen kompetent ist. Dieser junge Mann ist im International Settlement in Shanghai aufgewachsen gemeinsam mit Kindern aus aller Welt. Als er ungefähr zehn ist, verschwindet zuerst sein Vater, kurz danach auch seine Mutter und er wird nach England zu seiner Tante geschickt ohne dass das Verschwinden der Eltern aufgeklärt worden wäre.

Die Nachforschungen nach dem Verbleib seiner Eltern betreibt er jahrelang und systematisch. Ein Zeitstrang des Romans erzählt seine Kindheit in Shanghai, der andere die Gegenwart, in der er schließlich selbst nach Shanghai fährt um seine Recherchen abzuschließen.

Ich fand es manchmal schwierig zu sehen, ob der Erzähler sich kurz in ein Fantasiereich verirrt hat oder sich in der Realität befindet. Auch die Auflösung des Rätsels stellte mich vor die Frage, ob solche Vorfälle damals in Shanghai möglich gewesen wären. Es ist eine äußerst spannende Handlung, die in einigen Sequenzen ihre Figuren durch die Hölle gehen lässt, in anderen Erinnerungen aus einer behüteten Kindheit erzählt.

Auch mehrere Nebenfiguren sind sehr plastisch und interessant. Der beste Kindheitsfreund, der darunter leidet, dass seine Eltern ihn nicht japanisch genug finden und dem der Erzähler unter schrecklichen Bedingungen wieder begegnet. Die englische Lady, die auf der Suche nach einem ganz besonderen Mann ist und sich in eine grässliche Ehe verirrt. Die Adoptivtochter des Erzählers, eine sehr interessante Persönlichkeit

Opium spielt in dem Roman eine Rolle. Nach zwei Opiumkriegen, in denen die Briten China den Import der Droge aufzwangen, wird  zum Zeitpunkt der Erzählung Opium von Briten und Chinesen gemeinsam vertrieben. Die Opfer sind zahlreich, die Gewinne gigantisch. Auch der zweite japanisch-chinesische Krieg spielt in dem Roman eine Rolle. Zu dem Zeitpunkt der Handlung sind die Japaner bei der Eroberung Shanghais gerade sehr weit gekommen.

Klingt nach einem Action-Roman. Das ist es aber keineswegs, es ist ein Text mit der Qualitätsmarke „Ishiguro“.