

Echter als das Leben
Herbstlicher Nebel lag über dem Dorf als Ayla zu der Keramikhütte hinüberging. Der Boden war schlammig durch den Regen und die andauernde Feuchtigkeit und das Holz und die halbverfaulten Blätter verströmten Spätherbstgeruch. Sie trug ihren mit Fell gefütterten gewebten Umhang, ein Webstück mit einem ganz neuartigen Muster, das ihre Schwester erfunden hatte. Immer schon hatten die beiden Schwestern in allem wettgeeifert und daher dachte Ayla schon eine Weile darüber nach, wie dieses originelle Webmuster von einer neuen Idee beim Töpfern übertrumpft werden könnte. Vielleicht eine neue Art des Brennens?
„Paketbote! Frau Hilde Novak ?“
„Wer? Nein, ach so, Entschuldigung, ja Hilde Novak. Danke. Nein, das Paket für die Nachbarn nehme ich nicht.“
Auch wenn sie nicht mitging auf die Jagd kannte Ayla sich doch mit den Waffen der Männer aus. Sie konnte Holzspeere herstellen, zielsichere Waffen über viele Meter, sachkundig gebaut mit Schwerpunkt im vorderen Drittel. Stoßlanzen gehörten ebenso zu ihren Produkten wie Wurfhölzer für die Vogeljagd. Die Herstellung von Gerätschaften aus Holz und Stein, manchmal auch aus Bronze faszinierte sie. Ihre große Geschicklichkeit dabei hatte sie durch lange Übung erworben. Sie strich gerne über das geglättete Holz, war stolz auf die Perfektion. Manchmal hätte sie gerne ihren Namen eingraviert, aber etwas Starkes hielt sie davon ab, eine innere Stimme, keine Buchstaben, keine Namen.
In ihrem Haus hingen Waffen an den Wänden ebenso wie Keramikgeschirr um die Feuerstelle stand. Ein gut gebautes Haus aus Flechtwerk mit Lehm verstrichen, das Dach tief herunter gezogen und wasserableitend konstruiert. Ein wohlbestelltes Haus mit Webstuhl, Fellen und gefüllten Vorratskörben. Lange wohnte sie hier schon, konnte sich an ein Davor nicht erinnern.
„…. Und dann noch die Krüge. Hilde, wie schaut´s mit den Krügen aus?“
„Hilde !! “
„Was? Entschuldige, ich habe nicht zugehört.“
„Die Krüge, Hilde, die sind doch fertig, oder? Du hast noch nicht an der Uni angerufen“
„Ja sicher, die drei roten Krüge. Stehen in meinem Haus.“
„Ach, bist du jetzt schon hier eingezogen?“
Alle lachten, aber Hildes verwirrter Blick erschreckte sie und beschämte sie auch ein bisschen. Ihr herausragendes handwerkliches Geschick und ihre umfassenden Sachkenntnisse sicherten Hildes Platz im Team von Professor Stangl. Dass sie in letzter Zeit immer zerstreuter, immer seltsamer geworden war, hatte bisher keinen sichtbaren Einfluss auf die Haltung des Professors gehabt, es führte aber zu Unruhe in der Gruppe.
„Wenn sie nicht so kompetent wäre“ sagte Professor Stangl zu seinem Kollegen, dessen Spezialgebiet urzeitliche Waffen waren. „Sie ist in Theorie und Praxis unschlagbar, nicht nur beim Töpfern. Als wäre sie damals dabei gewesen“
„Das ist ein Teil des Problems“ murmelte der Waffenspezialist .
Montag. Sie parkte auf dem leeren Parkplatz vor dem Dorfeingang. Im Dorf war niemand zu sehen. Das lag natürlich an der Kälte. Wer nicht auf der Jagd war, blieb im Haus und beschäftigte sich mit Winterarbeiten. Das würde sie auch tun. Ayla setzte sich vor ihr Haus und schnitzte weiter an einem Stück Holz, das eine glatte, gerade Fläche bekommen sollte.
Ein junger Mann kam quer durch das Dorf auf sie zu. Er gefiel Ayla ausnehmend gut und sie winkte ihm zu. Kräftig gebaut, groß, mit langen Haaren. Er rief etwas, das klang wie „Hallo Hilde“. Komisch. Er kam näher, sie sah fröhliche Augen und einen meisterhaft gestrickten Pullover. Wieso konnte er einen gestrickten Pullover haben? Auch seltsam. Übermütig lief er die Böschung vor ihrem Haus hinauf. Sie sah ihn so irritiert an, dass er annahm, dass sie sich nicht an ihn erinnerte.
„Du weißt doch, ich bin der Wolfgang, ich dissertiere beim Professor Stangl
„Ja“ sagte Ayla „ja, ja. Ich habe gehört, ihr wollt eine neue Getreidemischung für´s Brot ausprobieren.“
„Ja, genau, deswegen bin ich heute da. Magst du kosten?“
Wolfgang war erst seit ein paar Tagen beim Team der experimentellen Archäologen und er konnte Hilde noch nicht so recht einordnen. Er wusste, dass der Professor sie sehr schätzte und als seine Hauptassistentin betrachtete. Die anderen respektierten ihre Kompetenz, behandelten sie aber ansonsten wie eine schrullige Außenseiterin, genau betrachtet noch etwas mehr als schrullig.
Gar nicht schlecht das neue Brot, Ayla wollte selbst dahinterkommen, wie das Getreide gemischt worden war. Sie kaute aufmerksam und beschäftigte sich weiter mit ihrer Holzplatte. Wolfgang war verschwunden und würde wohl so bald nicht wiederkommen. Schade irgendwie, aber daran wollte sie nicht denken.
Ayla packte ihre mitgebrachten Schätze aus, der selbstgemischte Rötel aus dem richtigen Gestein war eine besondere Kostbarkeit. Damals hatte sie regelmäßige Bergtouren gemacht und verschiedene Gesteine geklopft. Schatten von Erinnerungen, die ihr oft bizarr vorkamen und Unbehagen verursachten, wenn sie sie weiter verfolgen wollte.
Die rote Farbe für die Schlange, die sich im Kreis bewegte und schließlich selbst verschlang. Auch das schwarze Pigment und das ganz helle hatte sie selbst hergestellt und trug die Farben mit dem zu Urzeiten verwendeten Bindemittel auf. Mit ruhiger Hand malte sie auf das geglättete Holz, mit den Werkzeugen zu denen sie lange geforscht hatte bevor sie sie herstellte.
Da stand nun die fertige Holzplatte. Ein schönes Stück, ein Beweis für die Bedeutung der Schlange und auch für die Bedeutung der Kunst seit jeher. Die verwendeten Farbpigmente, die nicht aus der näheren Umgebung stammen konnten, bewiesen auch die Existenz uralter Handelswege quer durch Europa bis weit in den asiatischen Raum hinein.
Sie nahm einen der Nägel, die ihre Kollegen kürzlich geschmiedet hatten, schlug ihn in die Wand und hängte die fertige Platte auf. Sie war sehr zufrieden mit dem Werk, die warnende Stimme war gerade leicht zu überhören. Sie missachtete deren dringende Warnung vor Buchstaben als sie „Bronzezeit“ auf ein Stück Rinde schrieb und es unter die Zeichnung hängte.
„Was haben Sie sich dabei nur gedacht, Hilde ! Eine selbstbemalte Holzplatte auszustellen, mit Datierung in die Bronzezeit! Ausgerechnet am Tag der Inspektion für die Genehmigung der neuen Forschungsgelder ! Sind Sie denn noch bei Trost! Sollte das womöglich ein Scherz sein ?!“
„Alles Originalwerkzeuge, nur echte Werkstoffe“ murmelte Hilde. Es gelang ihr nicht, ihren Blick zu fokussieren und den wütenden Professor Stangl anzusehen.
Ein Hochhaus aus viel Glas, in dem sich der Himmel spiegelte. Manchmal waren es auch die Vorzimmer der Hölle mit glänzenden Namensschildern. Facharzt für Psychiatrie Prof. Dr. Müller, Verhaltenstherapie Evelyne Huber, Coaching Adalbert Hübsch …
„Wissen Sie Frau Novak, so etwas kann jedem von uns passieren, vor allem wenn sie in ihrem Beruf so kompetent sind wie man mir berichtet hat. Wenn die Balance zwischen Beruf und Privatleben ins Schwanken gerät, wenn man sich mit dem Beruf stark identifiziert und das Gegengewicht im Privatleben fehlt.“
„Ja, sagte Ayla das sollte nicht passieren.“ Sie überlegte dabei, ob sie mit den Männern auf die Jagd gehen könnte. Vielleicht kam Wolfgang auch mit.
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