Es geht nicht um die Ukraine. Es geht um den Zweiten Weltkrieg und Kinderschicksale aus dieser Zeit. Ich habe eine dreiteilige Artikelreihe zum Thema gelesen, von der Historikerin Maria Krell, die die Geschichte von Kriegskindern unter anderem anhand von Tagebucheintragungen und Aufsätzen von Kindern untersucht hat. Ich fasse die drei Artikel kurz zusammen. Der Inhalt ist schwer zu ertragen.
Es sind über 1200 Wörter geworden. Man verzeihe mir Rechtschreib- und Beistrichfehler sowie das schwache Layout. Ich habe kaum mehr darauf geachtet, weil mich der Inhalt ziemlich mitgenommen hat.
Der erste Teil der Artikelreihe trägt den Titel „Interniert, ausgehungert, ermordet“ und befasst sich mit Leben, Überleben und Tod von Kindern in Gettos und Konzentrationslagern, auch in belagerten Städten. Ich lasse die Autorin sprechen bzw die von ihr zitierten Tagebucheintragungen oder Aufsätze von Kindern.
Der damals 13-jährige Zanwel Krigman, der im Warschauer Ghetto lebte, schrieb 1942 in einem Aufsatz zum Thema „Wie es unserer Familie erging“ :
„Einmal wollte mir ein Gendarm den Proviant wegnehmen und fragte mich, was ich vorziehe: 30 Schläge oder das Geschmuggelte hergeben. Ich antwortete, die 30 Schläge – er ließ mich frei.“ Zanwel sorgte für seine Mutter, bis sie „im März 1942 vor Hunger“ starb. „Und dieser Hunger in Warschau, und der Übergang auf „die andere Seite“, immer diese Schüsse, die Junaken, die Deutschen, Angst gab es genug „ (1. Teil S 47)
Aus dem Getto Theresienstadt ist eine Zeichnung von einem Mädchen namens Ilona Wissowa erhalten. Sie malte auf, was wohl ihr sehnlichster Wunsch war. Im Bild hat sie sich zwischen allerlei Lebensmitteln platziert. Gabeln stecken in gebratenem Fisch, in Schwein und Huhn, es gibt Kuchen und Kakao. Hinter der 11-jährigen steht ein Schild mit der Beschriftung „Märchenland. Eintritt 1 Krone“ (1.Teil S47)
Verstörend ist auch der Bericht darüber, was die Kinder in den KZs spielten. Beim Spiel „Bestrafungsaktion“ etwa wollten die am Spiel teilnehmenden Kinder immer am liebsten der NS-Offizier sein.
„Schätzungen zufolge wurden etwa 232.000 Kinder und Jugendliche nach Auschwitz-Birkenau deportiert, etwas mehr als 23.500 wurden im Lager registriert. Als sowjetische Soldaten das Lager befreiten, fanden sie noch 700 Kinder und Jugendhäftlinge vor, 500 davon jünger als 15 Jahre“ (1. Teil S 48)
„Die Belagerung von Leningrad, dem heutigen St. Petersburg (…) gehört zu den furchtbarsten Kriegsverbrechen der Wehrmacht. Von 1941 bis 1944 , 872 Tage lang belagerte das deutsche Heer die Stadt. Dabei kamen mehr als eine Million Menschen ums Leben. Wenige der 400.000 Kinder wurden rechtzeitig aus der Stadt evakuiert, ebenfalls nur wenigen gelang die Flucht aus der Belagerung. Die Notlage war derart immens, dass in den mehr als zwei Jahren eine Lebensmittelration 125 Gramm Brot am Tag pro Person betrug. (…)
Am 27.Januar 1944 endete die Blockade von Leningrad. Die elfjährige Tatjana Sawitschewa überlebte die Befreiung der Stadt nur wenige Monate, bevor sie an den Folgen des Hungers starb. Ihr kurzes Tagebuch gilt heute als Mahnmal für die Belagerung (…) Darin schrieb das Mädchen:
„Schenja starb am 28 Dezember um 12 Uhr Vormittags, 1941. Oma starb am 25. Jänner, 3 Uhr Nachmittags, 1942. Ljoscha starb am 17. März um 5 Uhr morgens, 1942. Onkel Wasja starb am 13. April um 2 Uhr nach Mitternacht, 1942. Mutter am 13. Mai um 7:30 morgens, 1942. Die Sawitschews sind tot. Alle sind tot. Nur Tanja ist übrig geblieben“ (Erster Teil S 49)
Der zweite Artikel ist mit „Auf der Flucht“ überschrieben und legt wieder den Schwerpunkt auf das Schicksal von Kindern.
„Flucht bestimmte auch das Leben zahlreicher Menschen in der späten Kriegsphase. Seit Herbst 1944 versuchten sie, aus Ostpreußen, Schlesien, Pommern und der Neumark Brandenburg vor der heranrückenden russischen Armee in Richtung Westen zu entkommen. Darunter jede Menge Kinder, die sich im Winter bis ins Baltikum durchschlugen. „Wolfskinder“ nannte man sie, weil sie einige Zeit ohne menschliche Fürsorge blieben und sich von der Gesellschaft entfremdeten. Derartige Eindrücke traumatisierten eine ganze Generation, die während des Zweiten Weltkrieges Kinder und Jugendliche waren.“ (2. Teil S 77)
Das Trauma ließ die Kinder emotional erstarren. So schilderten Beobachter, dass Kinder, die nach Kriegsende zur Erholung an die Nordsee und in andere Gegenden verschickt wurden, an sich tot stellende Tiere erinnerten. Ihre Erfahrungen würden die Kleinen sachlich, emotionslos und knapp schildern. Ihre Gesichter blieben dabei unbewegt. Die Kalendernotizen einer 17-jährigen Berlinerin bestätigen die Nachkriegsberichte. Am 30. April 1945 notierte das Mädchen “ Die Russen sind da. Nachts Vergewaltigungen. Ich nicht, Mutti, ja“ ( 2. Teil S.78)
Waisenkinder mussten am Kriegsende oft komplett auf sich allein gestellt zurechtkommen. Sie flohen nach der Eroberung Ostpreußens durch die Rote Armee auf eigene Faust in Richtung Litauen (…) von den Höfen verjagt, schliefen die Kinder mal in Schuppen und Ställen, mal im Unterholz. In den Wäldern ernährten sie sich von Baumrinden, Gras und Fröschen. Als sie schließlich 1946 barfuß Litauen erreichten, hatten sie bereits viele ihrer Altersgenossen sterben sehen.
Schätzungsweise irrten etwa 25.000 Kinder alleine durch die Sümpfe und Wälder Litauens und Ostpreußens.
Die „Vokietukai“ , die „kleinen Deutschen“hatten in den Wirren des Krieges nicht nur ihr Zuhause und ihre Familie, sondern ebenso ihre Identität verloren. (…) Die Wolfskinder durften kein Deutsch sprechen, Erinnerungsstücke wie Fotos oder Briefe wurden verbrannt, selbst die Namen der Kinder wurden geändert. (…) Alles auszulöschen, was zum früheren Leben der Kinder gehörte, geschah zu ihrem Schutz und zu dem ihrer Helfer. Litauen war 1945 Teil der Sowjetunion, die Aufnahme von Feinden, also auch deutschen Kindern, stand unter hoher Strafe. (2. Teil S 81)
Forscher schätzen die Zahl der Waisenkinder zu Kriegsende in Europa auf etwa 13 Millionen. Europa war nach dem Zweiten Weltkrieg eine Nomadenlandschaft (2. Teil S81)
Der dritte Teil der Artikelreihe behandelt unter dem Titel „Hitlers Kindersoldaten“ ein besonders finsteres Thema: die Indoktrinierung der Jugend und wie sie schließlich als Kanonenfutter missbraucht wurde.
„In den prägendsten Lebensjahren verinnerlichte eine ganze Generation nationalsozialistische Parolen und Werte wie Pflichterfüllung oder Gefolgstreue. Sie wuchs im Glauben an Adolf Hitler und die eigene „rassische Überlegenheit“ auf. Und zu einem übersteigerten Pflichtgefühl erzogen, trieb es etliche in den letzten Kriegsmonaten dazu, sich und andere zu opfern. (3. Teil S53)
Die 15-jährige Lieselotte schreibt am 8. November 1943 in ihr Tagebuch „Ist es nicht heilige Verpflichtung weiterzukämpfen, und sollte Deutschland ausgerottet werden, dann wären wir alle gleich tapfer gewesen (…) Und wenn wir alle untergehen sollten, es kommt kein 1918 mehr. Adolf Hitler, ich glaube an dich und den deutschen Sieg.“ (3. Teil S53)
„Mit zunehmender Kriegsdauer und Radikalisierung zeigte sich die volle Widersprüchlichkeit und skrupellose Brutalität des Regimes. Als die Niederlage längst absehbar war, opferte die NS-Führung ausgerechnet jene Menschen, die sie jahrelang als „Zukunft des Volkes“ beschwor. Im 1944 gebildeten Volkssturm wurden alle waffenfähigen Männer zwischen 16 und 60 Jahren für den „Endsieg“ eingezogen.
Hauptmann Otto Hafner erinnert sich später „Es waren Buben, blasse Kindergesichter, die Feldblusen viel zu groß. Ihre dünnen Finger verschwanden unter den langen Ärmeln, die schmalen Gesichter unter den viel zu großen Helmen (…) Ich war sehr betroffen. Sollte ich mit diesen Kindern die Russen angreifen. (3. Teil S.57)
„Von den 15 bis 17-jährigen deutschen Jungen der Jahrgänge 1927 bis 1929 sind fast 60.000 gestorben – sie wurden größtenteils 1944 und 1945 eingezogen. Unter allen Jahrgängen von 1920 bis 1929 waren es mehr als 1,5 Millionen (3. Teil S 57)
Auch Lieselottes Bruder wurde zum Volkssturm eingezogen. Sein wahrscheinlicher Tod bringt die lange begeisterte Nationalsozialistin zu der Einsicht “ So viele, viele Soldaten haben sich gedrückt und sind gekniffen, dazu war Bertel aber viel zu begeistert. Für wen denn? Für Hitler? Für Deutschland? Arme verhetzte Jugend? (3. Teil S 57)
Quelle: Spektrum Geschichte. Maria Krell
6/2021 „interniert, ausgehungert, ermordet“
1/2022 „Auf der Flucht“
2/2022 „Hitlers Kindersoldaten“
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