Schlagwort: literarische Weltreise

101. Station meiner Literaturweltreise – Libanon

Der Erzählstrang, der in der Gegenwart läuft, handelt in Beyrouth, Hauptstadt des Libanons. Daher die Zuordnung.

Ich habe bisher vier Bücher von dem renommierten französischen Autor Eric-Emmanuel Schmitt gelesen „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“, „Oscar und die Dame in Rosa“ , Odysseus aus Bagdad“, das „Evangelium nach Pilatus“. Alle fand ich gut geschrieben und inhaltlich interessant und hatte somit sehr positive Erwartungen an sein neues Buch „Der Morgen der Welt“, die deutsche Übersetzung von „La traversée des temps“ (Verlag Albin Michel), das bei Bertelsmann herausgekommen ist und wie es scheint der erste Band einer achtbändigen Reihe ist. Die deutsche Übersetzung des zweiten Bands wird schon angekündigt, während in Frankreich gerade der vierte Band herauskommt.

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Schmitt ist ein beliebter, preisgekrönter französischer Schriftsteller und Dramaturg, ein Humanist, der sich mit vielen brennenden Themen der Welt beschäftigt hat, ein guter Erzähler. In dieser achtbändigen Reihe ist sein Anspruch, die gesamte Geschichte der Menschheit in Romanform darzustellen. Mir scheint allerdings, dass dieses Werk nicht sein bestes ist.

Die Geschichte ist nicht kompliziert. Sie beginnt in der Steinzeit mit einem jungen Mann namens Noam, der sich in weiterer Folge als der Noah der Sintflut herausstellt und der durch ein mysteriös bleibendes Ereignis zum Unsterblichen wird, der durch die Zeiten irrt. Das ist keine neue Idee, es geistern viele Unsterbliche oder auch Wiedererweckte durch die Literatur, die Belletristik und den Trash. Dieser Unsterbliche ist ein Ich-Erzähler und eigentlich das Produkt eines guten Autors.

Als Abenteuergeschichte, liest sich der Roman flüssig und spannend, aber die Figuren sind undifferenziert geschildert, flach, klischeehaft und eindeutig in gute und böse eingeteilt. Die weibliche Protagonistin etwa, die wie eine Art launische Barbiepuppe dargestellt wird, trägt an einer Stelle ein transparentes Gewand. (aus welchem Material könnte es sein?) Ich gehe davon aus, dass Schmitt über die Steinzeit, in der der Roman hauptsächlich spielt, recherchiert hat. Allzuviel Wissen darüber gibt es aber gar nicht, und es gelingt ihm keine glaubwürdige Darstellung weder der Zeit und ihrer Lebensumstände noch seiner Protagonisten: sie agieren und sprechen wie Menschen aus dem 21 Jahrhundert, die – warum auch immer – in angedeuteten steinzeitlichen Kulissen leben.

Im Zentrum des Geschehens steht einerseits die sich ankündigende Sintflut und andererseits mehrere Liebesgeschichten und Familientragödien. Der Autor geht davon aus, dass man im Neolithikum in polygamen Familien lebte, was, wie vieles andere in dieser Geschichte beschriebene nur auf Vermutungen beruht.

Nun könnte man sagen, dass doch eine in der Steinzeit spielende Geschichte erdacht werden kann. Ja schon, aber der Autor bezieht sich immer wieder in Form von langen Fußnoten auf die gesamte Geschichte der Menschheit. Einerseits mit erhobenem Zeigefinger zu Themen wie zum Beispiel Umweltverschmutzung und Klimakrise, andererseits mit Anekdoten aus dem Leben des unsterblichen Noam, der sich mit allen möglichen bekannten Persönlichkeiten der Geschichte getroffen hätte. Beispielsweise hat er Einstein das Leben gerettet, weil dieser ein sehr schlechter Segler war und sie gemeinsam in einen Sturm kamen (S 507), er hat Diderot und Jean-Jacques Rousseau getroffen, die beide in ihren Werken stark beeinflusst wurden von einzelnen Sätzen, die Noam von sich gab.(S.238) In der Sprache der Zwanzigjährigen würde ich sagen, es ist einfach too much.

Dieser erste Band einer in acht Bänden angelegten Geschichte hat durchaus auch Stellen , die mir gefallen haben, es sind nur nicht allzu viele. Ich denke, dass dieses Projekt auch gar nicht zu bewältigen ist, zumindest nicht in dieser erzählerischen Form. Eine Geschichte der Menschheit vom Neolithikum bis in die heutige Zeit mit demselben Protagonisten und in einer realistischen Erzählform mit gelegentlichen mystischen Einsprengseln. Weder wird das Leben in der Zeit einigermaßen glaubwürdig dargestellt noch kann man sich die handelnden Personen außerhalb der Gegenwart vorstellen.

Der Roman ist in zwei Zeitstränge gegliedert: die Gegenwart im Libanon und die Jungsteinzeit irgendwo an den Ufern des Schwarzen Meers. Die Übergänge von einer Erzählzeit in die andere sind so gestaltet, dass der Text spannend bleibt, aber den Übergang vom Ich-Erzähler in der Steinzeit zum Ich-Erzähler in der Gegenwart finde ich nicht besonders gelungen.

Insgesamt finde ich „der Morgen der Welt“ als Abenteuergeschichte nicht schlecht, für Leser*innen ohne Anspruch auf glaubhaftes historisches Ambiente und mit hoher Toleranzschwelle für klischeehafte vor allem weibliche Figuren.

100. Station meiner Literaturweltreise – Tuvalu

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Die 100. Station meiner Literatur- und Kunstweltreise ist Tuvalu, ein aus neun Inseln bestehender Staat im Südpazifik. Mit 26 Km2 ist es der flächenmäßig viertkleinste Staat der Erde. Ich beginne dort also meine geplante Reise zu den Inseln der Südsee,

Es war gar nicht einfach, ein Buch über Tuvalu aufzutreiben. Der Spürsinn einer Bibliothekarin hat schließlich dieses Jugendbuch zutage gefördert. Zuerst war ich wenig begeistert, ein Jugendbuch, naja … Aber sehr zu Unrecht, denn dieses Buch ist zwar keine literarische Offenbarung dafür aber informativ und als Einstieg in die Thematik sehr geeignet.

Durch die globale Klimaerwärmung steigt der Meeresspiegel und die kleinen, flachen Inseln im Südpazifik werden immer mehr überschwemmt. Dadurch wird einerseits die Fläche auf der man noch einigermaßen gefahrlos leben kann immer kleiner und andererseits versalzen durch Eindringen des Meerwassers die Böden immer mehr und werden für die Landwirtschaft unbrauchbar.

„Er kam am Abend, plötzlich und ohne Vorwarnung. Es gab nichts, was auf einen Sturm oder gar Monsterwellen hingedeutet hätte. Nicht einmal die talaalikis , die Rußseeschwalben, die beim Herannahen eines Zyklons über die Dörfer flogen und alle mit ihrem schrillen Schrei warnten, waren gesehen oder gehört worden. auch das von der Regierung installierte Frühwarnsystem, das die Bewohner auf dem kleinen Atoll mitten im Südpazifik warnen sollte, war wieder einmal ausgefallen.

Urplötzlich war sie da: die erste der Monsterwellen, die jeden Sturm begleiteten. Aus einer Höhe von acht Metern trafen die Wassermassen auf die Palmen am Strand, die wie trockene Zweige umkippten, und überschwemmten die kleinen Wohnhäuser, die keine zwei Meter über dem Meeresspiegel lagen. Die Menschen schrien, stolperten und rannten durcheinander nach allen Seiten davon. Mütter und Väter umklammerten die Hände ihrer Kinder und zerrten sie mit sich fort. Wer stürzte, wurde vom Wasser überspült.

Welle auf Welle schwappte durch Fenster und Türen in die Häuser und dann weiter bis zur Lagune auf der anderen Seite der an vielen Stellen nur zehn Meter breiten Insel Nanumea. Häuser, Dächer, Bäume, alles flog durch die Luft oder wurde im Wasserstrudel davongerissen.“ S5 Beginn der Geschichte

Die Protagonistin der Geschichte, Tahnee, ist ein 15-jähriges Mädchen, das mit seiner Familie auf einer der Inseln von Tuvalu lebt. Die Inseln der Gruppe liegen teilweise sehr nahe beieinander und die Menschen fahren zu verschiedenen Zwecken hin und her. Der Anbau bestimmter Feldfrüchte zB wird auf Böden betrieben, die es nicht auf jeder Insel gibt. Familienmitglieder leben nicht unbedingt alle auf derselben Insel. Tahnees Großmutter etwa, zu der sie ein sehr nahes Verhältnis hat, wohnt auf der Nachbarinsel. Der Großvater, der als bester und erfahrenster Kenner des Meeres bekannt ist, ist vom Fischfang nicht mehr zurückgekommen.

„Tuvalu“ ist ein Jugendbuch und daher gibt es auch eine Teenie-Liebesgeschichte zwischen Tahnee und einem ihrer Cousins. Dieser Handlungsstrang bringt die interessante Information, dass es ein strenges Tabu über Heiraten bzw sexuelle Beziehungen mit Verwandten bis zu Cousins und Cousinen dritten Grades gibt. Bei einer Bevölkerungszahl von etwa 10.000 Menschen erscheint dies ziemlich sinnvoll, ist im Einzelfall aber natürlich hart.

Wir erfahren vom Alltag in Tahnees Schule, die auf einer anderen Insel liegt. Die Jugendlichen beteiligen sich dort an mehreren Klimaschutzprojekten, wie etwa die „Pacific Climate Warriors“ gewinnen sogar einen internationalen Preis, es ist aber eigentlich allen Teilnehmenden klar, dass sie wenig bis nichts bewegen können um ihre Inseln zu retten. Das Stimmungsbild der Hoffnungslosigkeit und der Wut auf die Industriestaaten ist gut eingefangen. Auch der immer dramatischere Mangel an Süßwasser und an fruchtbaren Böden wird sehr eindringlich geschildert.

Tahnees Vater, der keine Chance mehr sieht, auf Tuvalu zu überleben, gelingt es für die ganze Familie Visa für Neuseeland zu bekommen. Die Familie will auswandern wie so viele andere Inselbewohner auch, weil sie ihre Lebensgrundlagen verlieren und auch ihr Leben in Gefahr sehen. Tahnee überlegt lange und beschließt dann, nicht mitzukommen sondern bei ihrer Großmutter zu bleiben und zu versuchen auf den Inseln zu überleben.

Neuseeland gewährt erstmals Klima-Asyl

Sigeo Alesana und seine Familie sind die ersten Klimaflüchtlinge der Welt. Die Bewohner des Inselstaates Tuvalu im Pazifik dürfen in Neuseeland bleiben.

Zum ersten Mal hat Neuseeland für den Antrag einer Familie auf Bleiberecht den Klimawandel als Gefahr berücksichtigt. Sigeo Alesana, seine Frau und die beiden Kinder im Alter von fünf und drei Jahren aus dem Pazifik-Inselstaat Tuvalu zwischen Hawaii und Australien dürfen in Neuseeland bleiben, wie ihre Anwältin Carole Curtis berichtete.  Damit wären sie die ersten Klimaflüchtlinge der Welt. 
Das Einwanderungstribunal von Neuseeland urteilte, die Kinder seien wegen ihres Alters besonders stark durch Naturkatastrophen und Folgen des Klimawandels gefährdet. Außerdem lebe bereits die gesamte Verwandtschaft der Familie in Neuseeland.
Tuvalu besteht aus insgesamt neun Korallenatollen und ist nur etwa 26 Quadratkilometer groß. Die Inselgruppe liegt im Südwesten des Pazifischen Ozeans, östlich von Papua-Neuguinea und nördlich von Neuseeland. Klimaexperten gehen davon aus, dass der Inselstaat mit etwa 11.000 Einwohnern womöglich bald untergehen wird, weil der Meeresspiegel kontinuierlich steigt.

Quelle: Zeit.de. Von dpa 4.8.2014 10:53

Ein Buch einer deutschen Autorin, die Jugendbücher über aktuelle politische und soziologische Themen schreibt. Ich fand es flüssig zu lesen und informativ und bin mit meinem thematischen Einstieg in die südpazifische Inselwelt sehr zufrieden.

99. Station meiner Literaturweltreise – Australien

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François Garde ist ein Autor, der mit der Weltregion über die er schreibt, durchaus vertraut ist. 1959 geboren, war er ein hoher französischer Regierungsbeamter in Neukaledonien und schrieb 2012 diesen seinen Erstlingsroman „Ce qu´il advint du sauvage blanc“. Der Roman wurde in Frankreich mit fünf Literaturpreisen ausgezeichnet darunter der Prix Goncourt für den ersten Roman. Die deutsche Übersetzung von Sylvia Spatz ist im C.H Beck Verlag 2014 erschienen.

Die Handlung des Romans basiert auf einer wahren Begebenheit. Es ist aber nicht herauszufinden wo die wahre Geschichte endet und das Fabulieren beginnt.
Ein französischer Matrose, Narcisse Pelletier, wird 1843 als 18-jähriger irrtümlich an der australischen Ostküste zurückgelassen und erst 17 Jahre später von einem englischen Schiff wieder aufgefunden. Ob er freiwillig wieder nach Europa bzw nach Frankreich reisen wollte, wird von verschiedenen Quellen verschieden dargestellt.

Narcisse Pelletier lebt mit einem Aborigines-Stamm an der Ostküste Australiens, er hat seine Muttersprache und sogar seinen Namen fast vergessen, er ist nackt und nach Art des Stammes tätowiert. Der in Sydney residierende britische Gouverneur ist heilfroh, die Verantwortung für diesen schwierigen Menschen loszuwerden und übergibt ihn an Octave de Vallombrun, einen französischen Abenteurer mit geographischen und wissenschaftlichen Interessen, der beschließt den „weißen Wilden“ nach Frankreich mitzunehmen und zu seiner Familie zu bringen.

Der Roman hat einen interessanten Aufbau. Ein Handlungsstrang läuft in der Vergangenheit und schildert aus auktorialer Sicht den Beginn von Narcisses Leben in Australien bei dem Aborigines-Stamm. Dieser Handlungsstrang läuft parallel zu einem anderen, in dem Vallombrun seine persönliche Geschichte und später seine Informationen über Narcisse in Briefen an den Präsidenten einer Geographischen Gesellschaft in Paris erzählt.

Die Beschreibung von Narcisses siebzehn Jahren bei den Aborigines reicht aber nur bis in eine Zeit, in der er noch auf eine Rettung durch ein französisches Schiff hofft und den Stammesmitgliedern noch ziemlich verständnislos gegenübersteht. Erst auf den allerletzten Seiten des Buchs gibt es einen kurzen Abschnitt über Narcisses Leben in Australien, der mich verblüfft hat, weil er so gar nichts Tragisches an sich hat, sondern von Heiterkeit berichtet und davon wie Narcisse langsam in die Gruppe aufgenommen wird.

Anfangs hat Vallombrun ein eher wissenschaftliches Interesse an Narcisse. Es gelingt ihm auch dem „weißen Wilden“ wieder Französisch beizubringen oder vielmehr es aus den Tiefen seiner Erinnerung hervorzuholen. Es entsteht zunächst der Eindruck, dass die Beschreibung des Lebens bei dem Aborigines-Stamm in allen Einzelheiten nur eine Frage der Zeit und besserer wiedererlangter Sprachkenntnisse ist. Doch die Kommunikation zwischen den beiden bleibt sehr schlecht und für Vallombrun sehr unbefriedigend. Narcisse schweigt beharrlich zu fast allen Fragen über sein Leben in Australien. Genauso verhält er sich, als er der von Vallombrun hochgeschätzten Geographischen Gesellschaft vorgestellt wird. Einige der Mitglieder der Gesellschaft halten ihn für einen Betrüger, andere verlieren einfach nur das Interesse. Vallombrun ist jedenfalls diskreditiert.

Die Wiederbegegnung mit seiner Familie lässt Narcisse ziemlich kalt, er reagiert aber sehr emotional als Vallombrun ihn nach seiner Mutter fragt. Er betrachtet allerdings eine alte Frau aus dem australischen Stamm als seine Mutter.

Vallombrun stellt den „weißen Wilden“ immer mehr ins Zentrum seines Lebens, kommt aber nur ganz winzige Schritte voran bei dem Versuch Narcisse Einzelheiten seiner Geschichte zu entlocken.

„Als ich die Nachforschungen fortführte, die Sie in Bezug auf weitere Fälle bereits begonnen hatten, entdeckte ich einige weitere vergessene Dramen. Und zwar nicht infolge von Schiffbrüchen, hier gibt Ihr Bericht sehr erschöpfend Auskunft, sondern infolge von Menschenraub und Überfällen, also auf festem Boden. In den unendlichen amerikanischen Weiten wie in Patagonien wurden Weiße entführt und lebten fortan bei Stämmen. Einige sehr kleine Kinder wurden durch und durch Indianer und verloren jede Erinnerung an das Leben mit ihren Eltern. Andere haben während ihrer leidvollen Gefangenschaft die Erinnerung an unsere Zivilisation bis zum inständig ersehnten Tag ihrer Befreiung in sich verwahrt.
Niemand hat wie Narcisse Pelletier die Reise von der einen Welt in die andere zweimal hinter sich gebracht. “ S 286

„Ich habe viel beobachtet und wahrscheinlich nichts dabei begriffen. Dieses Rätsel bleibt so hermetisch wie am allerersten Tag. Was in Sydney seinen Anfang genommen hat, ist vor kurzem hier in La Rochelle zu Ende gegangen. Hätte ich dort wie hier andere Worte finden müssen? Und was hatten meine Worte angesichts des beharrlichen Schweigens von Narcisse für ein Gewicht?“ S.287

Vallombrum, der auf weitere Forschungsreisen verzichtet, beschäftigt sich nun mit einem nicht sehr genau geschilderten wissenschaftlichen Projekt, das er Adamologie nennt. Dabei sollen sämtliche Wissenschaften vom Menschen in irgendeiner Weise zusammengeführt und aufeinander bezogen werden. Es bleibt aber unklar, sowohl für den Protagonisten selbst als auch für die Leserschaft ob es sich dabei um eine bahnbrechende Idee handelt oder ob Villambrun zusehends den Boden der Realität verlässt.

Schließlich kommt es zu einer letzten Begegnung zwischen den beiden Protagonisten. Vallombrun besucht Narcisse, der in einem Leuchtturm arbeitet. Er will ihn nun bei dieser Begegnung so intensiv befragen, dass er seinen Widerstand aufgibt und endlich von seinem Leben in Australien erzählt. Es ist eine sehr intensive Textstelle, die aber zu lange ist um sie zu zitieren. Bei dieser Befragung kommt heraus, dass Narcisse sich als Narcisse betrachtet vor und nach seinem Leben in Australien aber dass er während dieser Zeit ein anderer war über den er nicht sprechen will oder kann.

„Wer warst du in der Zwischenzeit?“
Er hob sein verstörtes Gesicht, über das stille Tränen liefen, und sagte endlich mit schmerzerfüllter Stimme „Reden ist wie Sterben“ S 290

„Um ihn zu begreifen, bleibt mir nur sein Aphorismus, ist dieser etwa sein Abschiedsgeschenk ? „Reden ist wie Sterben“ (…)
Meine Fragen zu beantworten, bedeutete für ihn sich in höchste Gefahr zu begeben. Sterben, nicht einen klinischen Tod, sondern tot für sich und andere zu sein. Sterben, weil es unmöglich war, beide Welten zugleich zu denken. Sterben weil es unmöglich war zugleich Weißer und Wilder zu sein.
Zweimal brachte er diese unsägliche Reise von einer Welt in die andere hinter sich. Um mit den Wilden zu leben, musste er sein Matrosenleben vergessen – wer wird jemals ermessen um welchen Preis! Als er wieder unter Weißen lebte, verweigerte er sich instinktiv einer ähnlichen Prozedur und flüchtete sich in eine selbst auferlegte Amnesie. Es war ihm unmöglich, Antworten zu geben, wenn er nicht die Brücke zu seiner Festung herunterlassen und beide, Matrosen und kleinen Teufel, in einen tödlichen Kampf verwickelt sehen wollte. Sein Verstand hätte das nicht überlebt.“ S292

Narcisse flüchtet, ist irgendwo auf französischen Straßen unterwegs, jeder Kontakt zu Vallombrun bricht ab. Ein paar Jahre später stirbt Vallombrun. Seine Geschwister fechten sein Testament an: er hat praktisch das gesamte Familienvermögen dem verschwundenen Narcisse und dessen Kindern vererbt, eine große Summe soll auch an die Geographische Gesellschaft gehen unter der Bedingung, dass sie Expeditionen ausrüstet und nach den Kindern von Narcisse in Australien sucht.

Ein Roman, den ich sehr ungewöhnlich fand, der aber durchaus ein aktuelles Thema trifft. Es geht jedenfalls um Definitionen bzw Interpretationen von Zivilisation, um das Zusammenprallen verschiedener Welten und Persönlichkeiten, um Identität. Die Interpretation dieses ungewöhnlichen Romans bleibe aber den Lesenden überlassen, es gibt dafür viele Möglichkeiten

Südsee – meine Literatur- und Kunstweltreise

Bei meiner Literatur- und Kunstweltreise ( hier ist sie zu finden ) möchte ich nun den Südpazifik bereisen, eine Region mit tausenden Inseln. Ich habe mir zunächst einmal einen groben Überblick verschafft und bin ziemlich überwältigt von den unzähligen Inseln und den vielen Mini-Staaten

MICRONESIEN

  • Nördliche Marianen (Außengebiet der USA)
  • Guam (Außengebiet der USA)
  • Marshall-Inseln (Republik über 1000 Inseln)
  • Föderierte Staaten von Micronesien (demokratischer Bundesstaat)
  • Nauru (Republik)
  • Palau (Republik, 356 Inseln)
  • Karibati (Republik 33 Korallenatolle und Inseln)

MELANESIEN

  • Fischi
  • Neukaledonien (Frankreich)
  • Papua Neuguinea
  • Salomonen (hunderte Inseln)
  • Vanuatu (83 Inseln davon 67 bewohnte)

POLYNESIEN

  • Französisch Polynesien (Tahiti, Moorea, Bora-Bora, Maupiti, Huahine, Marquesas )
  • Cook Inseln (15 Inseln)
  • Niue
  • Osterinsel (Chile)
  • Pitcairn (britisches Überseegebiet)
  • amerikanisch Samoa (Außengebiet der USA)
  • Samoa
  • Tokelau (Neuseeland, 3 Atolle, 1.500 Einwohner)
  • Tonga (Monarchie, 170 Inseln, 106.000 Einwohner)
  • Tuvalu (parlamentarische Monarchie GB )
  • Wallis und Futuna (französisches Überseegebiet)

Mir scheint, da habe ich noch einiges vor. Alle blaumarkierten Staaten werde ich lesend oder Kunst betrachtend bereisen. Vielleicht muss ich mir mangels Literatur und international bekannter Kunst noch anderes einfallen lassen. Bisher – ich bin aber erst am Anfang der Recherchen – habe ich Literatur und Kunst von Europäern oder Amerikanern gefunden, die über diese Regionen schreiben oder dort gemalt haben. Das ist halt der Tunnelblick von Europa aus, der ausgeweitet werden soll.

98. Station meiner Literaturweltreise – Indien

Die Originalausgabe dieses Buches erschien 2021 unter dem Titel „The Earthspinner“, die deutsche Übersetzung von Werner Löcher-Lawrence 2023 im Luchterhand Literaturverlag unter dem Titel „Ton für de Götter“. Tatsächlich ist Töpfern das Leitmotiv dieses Romans, Töpfern als eine Möglichkeit künstlerischen Schaffens und eine Verbindung zur Welt und zur eigenen Geschichte:

„Elango wusste, dass seine Vorstellung vielleicht nicht umsetzbar war, aber es gab keinen einfacheren Weg. Er würde auf dem Weg der Vollendung eine Reihe Fehler machen müssen. Manch einer würde es womöglich vergeudete Zeit nennen – kein Wunder, schufen die meisten Leute doch niemals etwas. Was wussten sie von den fruchtlosen, ermüdenden Tagen und Monaten, die notwendig waren, bis Hände, Herz und Verstand zusammenfanden “ S 146

Der Roman beginnt als Tagebuch von Sara, einer indischen Studentin in England, die schon als Kind bei Elango das Töpfern erlernt hat. Auf ihrem Uni-Campus gibt es auch eine Töpferwerkstatt, wo sie gerne arbeitet.

„Es ist Herbst und ich studiere in England. Ich habe noch nie einen Herbst erlebt. Da, wo ich aufgewachsen bin, kommt mit dem Monsum ein milder Winter, den die Bäume nicht für bedeutsam genug erachten, um seinetwegen die Farbe zu wechseln, und schon nach Tagen beginnen die Infernos des Sommers von Neuem“
S 9 – Beginn des Romans

Anuradha Roys bildhafte, sinnliche Sprache war für mich das Highlight dieses Romans.

„Jetzt sitze ich auf der anderen Seite des Ozeans, an diesem Tisch an dem nichts in der Dunkelheit hinter der Lichtscheibe meiner Lampe zu erkennen ist. Ich sehe mein Spiegelbild im Fenster, und es ist, als wäre ich hier drinnen, aber mein Gesicht schwebt draußen und möchte hereingelassen werden. Ich kenne dieses Gesicht nicht. Ich muss herausfinden, wie ich mir ähneln kann. S21

Der Aufbau des Buchs ist unkompliziert: Sara, eine der Hauptfiguren des Romans schreibt in ihrer britischen Universitätsstadt ein Tagebuch, in dem sie ihr aktuelles Leben ebenso wie ihre Kindheit schildert. Sie schreibt als Ich-Erzählerin, es gibt aber auch Einschübe mit Wechsel der Perspektive und Übergang zu einem auktorialen Stil, wenn etwa die Geschichte des Hundes erzählt wird der auch eine wichtigere Rolle spielt oder der Töpfer Elango ins Zentrum des Geschehens rückt.

Die Handlung des Romans ist ebenso unkompliziert wie sein Aufbau. Der indische Töpfer Elango sieht in einem Traum ein Pferd mit Flammenatem, das sich unter Wasser bewegt und beschließt so ein Pferd zu schaffen:

„Ein Pferd stand in Flammen. Es streifte durch den Ozean und atmete Feuer, und wenn es die Mähne schüttelte, färbten die Flammen die Wellen feuerrot. Als es aus dem Wasser hervorbrach, war es groß wie ein Baum und das Feuer knisterte wie Papier beim Zerknittern S43

Später erfahren wir, dass das Erschaffen eines riesigen tönernen Pferds eine alte Tradition der Töpfer des Ortes ist, in dem Elango und Sara leben:

„Der Teil unserer Stadt, der heute Kummarapet heißt, ging auf ein Dorf zurück, das sie ursprünglich in Andhra Pradesh gegründet hatten, und eines der Dinge, die sie aus der Vergangenheit erhalten hatten, war die Tradition, jedes Jahr ein tönernes Pferd zu schaffen – eine Tradition, die es heute nicht mehr gab, genauso wenig wie die Töpfer. Früher hatte einmal jährlich ein Fest im Tempel stattgefunden, zu dem das Pferd unbedingt dazugehörte. Die Götter verlangten ein Zeichen kollektiver Verehrung, der Grund dafür war nicht bekannt, aber die Töpfer akzeptierten es als Bestandteil ihres Lebens. Es kostete sie etliche Tage das Pferd fertigzustellen, es wurde geschmückt und geweiht und feierlich mit Musik durch die Straßen gezogen. Es war ein göttliches Pferd, den Söhnen Shivas gewidmet, dem Schutzgott des Dorfes, und bewahrte sie vor Krankheit, Banditen und allem Übel. Überbleibsel jener uralten Pferde standen noch auf dem Grund eines der alten Tempel, von Wind und Regen gezeichnet.“ S 102

Das zweite Hauptthema des Romans ist neben dem Töpfern die fast unmögliche Liebe zwischen Elango, einem Hindu und Zohra, die Muslimin ist. Eine Verbindung, die in Indien gelinde gesagt problematisch ist. Ein Freund Elangos meint dazu:

„Gib den Gedanken auf (…) In diesem Land können allein Filmstars und Cricketspieler heiraten, wen sie wollen“ S 54

Elango hat die Idee Zohras Großvater, einen islamischen Schriftgelehrten und Kalligraphen zu bitten, etwas auf sein Tonpferd zu schreiben, in Urdu. Er schreibt:

„Hör genau zu
Weder der Veda
Noch der Koran
Wird dich das lehren:
Leg ihm das Zaumzeug an,
Den Sattel auf den Rücken,
Setz deinen Fuß in den Steigbügel
Und reite mit deinem ungestüm fliehenden Verstand
Bis hinauf in die Himmel“ S 167

Es ist ein Gedicht von Kabir, einem indischen Mystiker des 15. Jahrhunderts, der das Ideal einer einigen Menschheit vertrat. Dies kann aber den fanatisierten Mob nicht aufhalten. Die über die Verbindung zwischen Elango und Zohra erbosten Nachbarn zerstören das Pferd, das Paar kommt mit dem Leben davon und flüchtet.

„Tötet den Töpfer, zerschlagt das Pferd. Ein jeder schlage darauf ein – Gott wird mit euch sein, Gott wird mit euch sein“ S 189

Im letzten Drittel des Buchs übernimmt wieder die Stimme der Studentin Sara. Wir lernen etliche interessante Personen aus ihrem aktuellen Leben kennen. Einen Astrophysiker namens Darius, eine chinesische Studentin namens Karin, die Athletin auf olympischen Niveau ist, aber viel lieber Ingenieurswissenschaften studieren möchte.

Das wichtigste Ereignis dieses Teils des Romans ist aber, dass Sara erfährt, dass Elango in London ausstellt und sie hinfährt und ihn dort trifft. Diese Begegnung schließt den Kreis der Geschichte.

Der letzte Absatz gehört dem Traum des mittlerweile alten Hundes Chinna, der sich an seine erste Begegnung mit Elango erinnert:

„Und dann ein tiefer, schöner Schlaf, in dem er von einem wuschelköpfigen Mann träumte, der ihn vor langer Zeit aus einem Wald mitgenommen, ihn in einem Teich gebadet, an sich gedrückt und mit Bissen aus dem eigenen Mund gefüttert hatte“ S 280

Eine Textstelle über ihren Vater, Leben und Tod, Vergänglichkeit und Metamorphosen, die mir besonders gut gefallen hat, muss hier unbedingt noch vorkommen:

„Wir schliefen zum Geräusch auseinanderstebender, zusammenprallender und aneinander vorbeitreibender Erdplatten ein, die neue Berge auftürmen, Ozeane aufwühlen und Kontinente formen oder Zerreißen. Mein Vater wurde nur siebenundfünfzig Jahre alt, doch der Zeitrahmen seines Denkens umfasste Milliarden von Jahren. In seinem persönlichen Atlas waren Pangaea, Gondwana und Laurentia Kontinente wie Asien und Afrika, und einen versteinerten Ammoniten, dessen Spirale sich über Millionen von Jahren entrollte, fand er nicht unbedingt alt. (…) Ihn faszinierte die Vorstellung, dass der Himalaya einmal unter Wasser gestanden hatte, von Meereswesen bevölkert, und zwar vor nur etwa sechzig Millionen Jahren. Es fiel ihm leicht sich vorzustellen wie die afrikanische und die europäische Platte in Zeitlupe gegeneinanderstießen, wie unter dem Bersten und Knirschen titanischer Wellen neue Berge in die Höhe wuchsen und keuchende Fische und Kalamare mit sich nahmen, die langsam versteinerten.

Wenn Meerestiere an Land als Fossilien weiterlebten, denke ich jetzt, ist auch mein Vater nur in ein anderes Element übergegangen, und ich werde ihn irgendwo in anderer Form wiederfinden. Aus warmem, lebendigen Fleisch wurde er zu Asche, die wir in den Fluss gestreut haben. Ich hatte gedacht, das sei die gründlichste Auslöschung jeder Spur körperlichen Seins. Aber jetzt, da ich mich mit Glasuren beschäftige, frage ich mich, ob er es amüsant oder entsetzlich finden würde, wenn ich mir von Zeit zu Zeit wünsche, seine Asche zu einer Glasur zu verarbeiten. Wusste er, dass seine Steine und Fossilien, ja sogar seine eigenen Knochen, dazu benützt werden können, Ton zu färben ? Könnte ich nur in das Element hineinreichen, in dem er sich im Moment aufhält, was immer es sein mag, ich würde ihm in meiner gerade fertiggestellten kobaltblau glasierten Tasse einen Tee servieren “ S17 ff

96. Station meiner Literaturweltreise – Südkorea

Das Buch lag schon eine Weile herum, weil ich beim Lesen in ganz anderen Gegenden unterwegs war. Es wurde 2008 veröffentlicht und 2014 auf Deutsch übersetzt. Die in Süd-Korea bekannte und beliebte Autorin, Kyung-Sook Shin, hat mehrere Romane veröffentlicht – von denen nur dieser auf Deutsch übersetzt wurde.

Die Handlung von „Als Mutter verschwand“ lässt sich leicht zusammenfassen: die Mutter einer Familie mit vier erwachsenen Kindern, die ihrerseits auch schon Kinder haben, verschwindet als sie mit ihrem Mann aus dem Dorf in dem sie lebt nach Seoul fährt um dort ihre Kinder zu besuchen. Sie schafft es nicht gleichzeitig mit ihrem Mann in die U-Bahn einzusteigen und verschwindet spurlos auf dem Bahnhof in Seoul.

Nicht ganz spurlos, denn die ausgedehnte Suchaktion, die die Familie durchführt, führt zur Entdeckung von Menschen, die meinen, sie gesehen zu haben. Der überzeugendste Zeuge ist ein Apotheker, der sie als verwahrloste Obdachlose in der Nähe seiner Apotheke vorfindet und die große, infizierte Wunde an ihrem Fuss behandelt, von der schon vor ihrem Verschwinden die Rede war.

Alle Beschreibungen der Verschwundenen bleiben etwas seltsam, denn die meisten Leute erinnern sich nur an den besonderen Ausdruck ihrer Augen und meinen, dass sie ansonsten dem Foto, das ihnen gezeigt wird gar nicht ähnlich sähe. Worin sich aber alle einig sind, ist, dass die Frau, die sie gesehen haben, blaue Plastiksandalen trug und eine Wunde am Fuss hatte. Die Familie ist allerdings der Meinung, dass die Mutter beige Sandaletten trug, als sie in Seoul ankam.

Die Leserin kann vermuten, dass diese Diskrepanz auf eine nicht allzu große Aufmerksamkeit der Familie zurückzuführen ist, was gerade in einer asiatischen Gesellschaft wie der koreanischen eine ziemlich große Verfehlung darstellt. Ganz nebenbei erfahren wir auch eine Menge über koreanische Sitten und Gebräuche und auch über die geschichtliche Entwicklung der Beziehung zu Nordkorea.

Bei der Erzählung von der Suche nach der Mutter erfahren wir vieles aus deren Leben, auch vieles vom Leben in einem koreanischen Dorf durch die Jahrzehnte, dabei auch einige sehr überraschende Dinge. Eigentlich alle Familienmitglieder insbesondere ihr Mann erkennen, wie gleichgültig sie die Mutter oft behandelt haben und entwickeln ein schlechtes Gewissen.

Das wirklich Ungewöhnliche an diesem Roman ist die Erzählstimme. Das erste Kapitel beginnt wie folgt:

„Eine Woche ist es jetzt her, das Mama verschwunden ist.

Die Familie ist bei deinem ältesten Bruder Hyong-Chol versammelt und diskutiert, was sie unternehmen soll. Ihr beschließt, Flugblätter zu drucken und in der Gegend zu verteilen.“
p.7

Hier wird eine der Töchter mit „du“ angesprochen, die gesamte Familie mit „ihr“. Im zweiten Kapitel wird in der dritten Person aus der Perspektive des ältesten Sohns erzählt. Im dritten Kapitel geht es um die Perspektive des Vaters, der aber wiederum von der Erzählstimme als „du“ angesprochen wird.

Kapitel 4 bringt die Erhellung darüber, wer die Erzählstimme ist: hier spricht eindeutig die Mutter und wendet sich nun an jene ihrer Töchter, die kürzlich aus Amerika zurückgekehrt ist und die schon drei Kinder hat. Wir erfahren, dass die verschwundene Mutter in Gestalt eines Vogels auf einem Baum sitzt. Dann schildert die Mutter- nun als Ich-Erzählerin einiges aus ihrem Leben und besucht das Haus in dem sie gewohnt hat

„Dann drehst du dich zum Fenster und schaust hinaus. Du siehst mich im Quittenbaum sitzen. Unsere Blicke treffen sich. du murmelst „Diesen Vogel habe ich noch nie gesehen“ p.181

Ein recht schräger Roman, der sich aber sehr flüssig liest und mir gut gefallen hat.

95. Station meiner Literaturweltreise – Syrien

Sherko Fatahs Roman handelt von einer Vater-Tochter Beziehung, er handelt auch von Wurzeln und Heimat , von einer lebensfeindlichen Landschaft, vom Leben der Kurden, eines Volks ohne eigenen Staat. Er handelt vom IS, auch Daesh genannt zu dem die Tochter des Protagonisten gereist ist um sich mit einem „Bruder“, einem Kämpfer des Daesh zu verheiraten.

Der Protagonist Murad, dessen Name „der sehnliche Wunsch“ bedeutet, sucht nach seiner Tochter Naima, bzw lässt er von einheimischen Profis suchen, er ist kein Abenteurertyp. Er bezahlt viel für Informationen und streift inzwischen selbst im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien herum, im Kurdengebiet, der Heimat seines Vaters. Während der Protagonist in dieser sehr eindrucksvoll beschriebenen Landschaft unterwegs ist, denkt er über seine Vaterrolle nach, in der er sich gescheitert fühlt. Er bedauert, seine Tochter im Grunde so wenig zu kennen und ihr auch zu wenig von den Wurzeln ihres Großvaters erzählt zu haben.

„Murad dachte an Deutschland zurück und kam zu dem Schluss, dass dieses Heimatgefühl für die meisten Leute dort etwas Selbstverständliches war; sie waren wo sie hingehörten.. Für mich wird es das nicht geben, dachte Murad, ich bin nie dort, wo ich hingehöre (…) War das vielleicht auch der Grund für Naima, hatte sie sich vielleicht auf den Weg zu ihrem Ort gemacht? (…) es wollte in Murads Augen nicht so recht zu Naima passen. Es schien ihm einfach zu sentimental. Im Grunde aber entsprach es nicht dem Bild, das er sich von ihrer Generation machte. Passte ein solches Gefühl überhaupt zu diesen jungen Leuten mit ihren im Licht der Handydisplays bleichen Gesichtern? “ S.76

Ebenso wie schon Murad selbst ist seine Tochter in Deutschland geboren und aufgewachsen ohne Verbindung zu den kulturellen und religiösen Traditionen des kurdischen Volks. Ihre Mutter ist Deutsche, der Vater vermutet aber, dass es Naima nicht gelungen ist, ihre Wurzeln zu definieren und ihren Platz in der Welt zu finden. Und eines Tages beginnt sie sich für den Islam zu interessieren bzw für einen jungen Mann, der die Absicht hat, zum Daesh nach Syrien zu reisen.

Das Buch ist ebenso wie drei Vorgänger-Romane von Sherko Fatah im von mir hochgeschätzen Luchterhand-Verlag erschienen. Sherko Fatah, geboren 1964 in Ostberlin, ist ein deutscher Schriftsteller mit irakisch-kurdischen Wurzeln. Er hat in der DDR, in Wien und in Westberlin gelebt, wobei die Familie oft in den Irak gereist ist. Er hat Philosophie und Kunstgeschichte studiert. In allen seinen Büchern thematisiert er die gewalttätigen Auseinandersetzungen im kurdischen Grenzgebiet zwischen Iran, Irak und der Türkei sowie deren Auswirkungen bis nach Europa. Seine Figuren erleben Entwurzelung, Krieg, Gewalt, Folter, Flucht und Exil in verschiedenen Facetten. Man kann also vermuten, dass der Protagonist dieses Buchs einiges mit dem Autor gemeinsam hat.

Die Schmuggler, die sich professionell mit dem Auffinden von Personen im Gebiet des Daesh befassen, haben eine junge Frau gefunden, von der sie vermuten, dass es sich um Naima handelt. In Mardin überreichen sie ihm ein Foto, aber Murad ist sich nicht sicher, ob es sich bei der auf dem Foto dargestellten verschleierten Frau tatsächlich um seine Tochter handelt.

Es gibt aber einen weiteren Hinweis: eine Art Audiotagebuch, das auf nicht ganz durchschaubare Art und Weise Stück für Stück in den Besitz der Schmuggler kommt. Dieses Tagebuch, von dem man bis zuletzt nicht weiß, ob es tatsächlich von Murads Tochter stammt, ist ein wichtiges Element des Romanaufbaus. Abgesehen von kleineren Begegnungen mit Bewohnern der Region und den Leuten bei denen Murad wohnt, ist es das einzige Element, das die Handlung vorantreibt.

Aus diesem Tagebuch erfährt man einiges aus dem Alltagsleben im Kalifat und über die Ideologie, die dort herrscht. Ansonsten ist der Islam und seine Auswüchse in diesem Roman kein sehr wichtiges Thema.

Durch seinen Fahrer und die Streifzüge durch die Gegend lernt Murad auch eine kurdische Kämpferin gegen den Daesh kennen. Das Kalifat ist fast am Ende, Rakka, die Stadt, in der sich die vermutete Naima befindet, kann jeden Moment fallen. Die Schmuggler drängen darauf schnell zu handeln und Naima aus dem Kriegsgebiet herauszuholen, doch Murad zögert, will zuerst mitkommen, dann doch wieder nicht. Hier tritt nun eine Person auf, von der schon öfter die Rede war nämlich Murads Freund Aziz.

Von Aziz erfährt man, dass er zu Murad kommen will, dass er irgendwo in der Gegend ist und schließlich, dass er selbst in Rakka war dass es im gelungen ist, Naima in Sicherheit zu bringen.

„Vielleicht war es eine Schnapsidee, aber ich war da, als sie mich brauchte. Und ich habe ihr geholfen. Das habe ich auch für dich getan“ S373

Die Kurden haben bereits die Macht übernommen. Aziz, Murad und Naima treffen zusammen und die ganze Problematik der Vater-Tochter-Beziehung wird klar.

„Naima erhob sich sofort und drängte sich an Murad vorbei, stieß ihn ein wenig von sich. Er fiel rückwärts, saß am Boden und blickte ihr nach, wie sie aus dem Raum huschte (…) Schwerfällig erhob er sich und ging ihr nach. Bereits vom Gang aus sah er Naima mit wehender Abaya auf Aziz zulaufen und ihm um den Hals fallen. Da blieb Murad stehen. Kurz zweifelte er an dem, was er sah, dann sickerte die Erkenntnis in ihn ein. Aziz hielt seine Tochter fest in den Armen.“ S 377

Tja, über dieses „seine Tochter“ kann man nachdenken, erfährt aber nichts weiter, ebenso wenig wie darüber, ob das Audiotagebuch nun von Naima stammte oder doch nicht.

Obwohl ein alles andere als geruhsames Thema im Zentrum dieses Romans steht, plätschert er doch recht gemütlich dahin. Er erinnert mich etwas an einen Thesenroman: „als Vater mit kurdischen Wurzeln sollte man seiner Tochter … “ Alles in allem hat mir der Text gut gefallen. Die Sprache liest sich sehr flüssig, die Beschreibungen der Region haben mich interessiert, ebenso das Audiotagebuch über das Leben im „Kalifat“, und auch die etwas langatmigen Überlegungen, die Murad über Heimat und Wurzeln anstellt. Jemandem auf der Suche nach Spannung, kann ich diesen Roman nicht empfehlen, wohl aber Leser*innen, die sich für die Thematik interessieren.