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François Garde ist ein Autor, der mit der Weltregion über die er schreibt, durchaus vertraut ist. 1959 geboren, war er ein hoher französischer Regierungsbeamter in Neukaledonien und schrieb 2012 diesen seinen Erstlingsroman „Ce qu´il advint du sauvage blanc“. Der Roman wurde in Frankreich mit fünf Literaturpreisen ausgezeichnet darunter der Prix Goncourt für den ersten Roman. Die deutsche Übersetzung von Sylvia Spatz ist im C.H Beck Verlag 2014 erschienen.
Die Handlung des Romans basiert auf einer wahren Begebenheit. Es ist aber nicht herauszufinden wo die wahre Geschichte endet und das Fabulieren beginnt.
Ein französischer Matrose, Narcisse Pelletier, wird 1843 als 18-jähriger irrtümlich an der australischen Ostküste zurückgelassen und erst 17 Jahre später von einem englischen Schiff wieder aufgefunden. Ob er freiwillig wieder nach Europa bzw nach Frankreich reisen wollte, wird von verschiedenen Quellen verschieden dargestellt.
Narcisse Pelletier lebt mit einem Aborigines-Stamm an der Ostküste Australiens, er hat seine Muttersprache und sogar seinen Namen fast vergessen, er ist nackt und nach Art des Stammes tätowiert. Der in Sydney residierende britische Gouverneur ist heilfroh, die Verantwortung für diesen schwierigen Menschen loszuwerden und übergibt ihn an Octave de Vallombrun, einen französischen Abenteurer mit geographischen und wissenschaftlichen Interessen, der beschließt den „weißen Wilden“ nach Frankreich mitzunehmen und zu seiner Familie zu bringen.
Der Roman hat einen interessanten Aufbau. Ein Handlungsstrang läuft in der Vergangenheit und schildert aus auktorialer Sicht den Beginn von Narcisses Leben in Australien bei dem Aborigines-Stamm. Dieser Handlungsstrang läuft parallel zu einem anderen, in dem Vallombrun seine persönliche Geschichte und später seine Informationen über Narcisse in Briefen an den Präsidenten einer Geographischen Gesellschaft in Paris erzählt.
Die Beschreibung von Narcisses siebzehn Jahren bei den Aborigines reicht aber nur bis in eine Zeit, in der er noch auf eine Rettung durch ein französisches Schiff hofft und den Stammesmitgliedern noch ziemlich verständnislos gegenübersteht. Erst auf den allerletzten Seiten des Buchs gibt es einen kurzen Abschnitt über Narcisses Leben in Australien, der mich verblüfft hat, weil er so gar nichts Tragisches an sich hat, sondern von Heiterkeit berichtet und davon wie Narcisse langsam in die Gruppe aufgenommen wird.
Anfangs hat Vallombrun ein eher wissenschaftliches Interesse an Narcisse. Es gelingt ihm auch dem „weißen Wilden“ wieder Französisch beizubringen oder vielmehr es aus den Tiefen seiner Erinnerung hervorzuholen. Es entsteht zunächst der Eindruck, dass die Beschreibung des Lebens bei dem Aborigines-Stamm in allen Einzelheiten nur eine Frage der Zeit und besserer wiedererlangter Sprachkenntnisse ist. Doch die Kommunikation zwischen den beiden bleibt sehr schlecht und für Vallombrun sehr unbefriedigend. Narcisse schweigt beharrlich zu fast allen Fragen über sein Leben in Australien. Genauso verhält er sich, als er der von Vallombrun hochgeschätzten Geographischen Gesellschaft vorgestellt wird. Einige der Mitglieder der Gesellschaft halten ihn für einen Betrüger, andere verlieren einfach nur das Interesse. Vallombrun ist jedenfalls diskreditiert.
Die Wiederbegegnung mit seiner Familie lässt Narcisse ziemlich kalt, er reagiert aber sehr emotional als Vallombrun ihn nach seiner Mutter fragt. Er betrachtet allerdings eine alte Frau aus dem australischen Stamm als seine Mutter.
Vallombrun stellt den „weißen Wilden“ immer mehr ins Zentrum seines Lebens, kommt aber nur ganz winzige Schritte voran bei dem Versuch Narcisse Einzelheiten seiner Geschichte zu entlocken.
„Als ich die Nachforschungen fortführte, die Sie in Bezug auf weitere Fälle bereits begonnen hatten, entdeckte ich einige weitere vergessene Dramen. Und zwar nicht infolge von Schiffbrüchen, hier gibt Ihr Bericht sehr erschöpfend Auskunft, sondern infolge von Menschenraub und Überfällen, also auf festem Boden. In den unendlichen amerikanischen Weiten wie in Patagonien wurden Weiße entführt und lebten fortan bei Stämmen. Einige sehr kleine Kinder wurden durch und durch Indianer und verloren jede Erinnerung an das Leben mit ihren Eltern. Andere haben während ihrer leidvollen Gefangenschaft die Erinnerung an unsere Zivilisation bis zum inständig ersehnten Tag ihrer Befreiung in sich verwahrt.
Niemand hat wie Narcisse Pelletier die Reise von der einen Welt in die andere zweimal hinter sich gebracht. “ S 286
„Ich habe viel beobachtet und wahrscheinlich nichts dabei begriffen. Dieses Rätsel bleibt so hermetisch wie am allerersten Tag. Was in Sydney seinen Anfang genommen hat, ist vor kurzem hier in La Rochelle zu Ende gegangen. Hätte ich dort wie hier andere Worte finden müssen? Und was hatten meine Worte angesichts des beharrlichen Schweigens von Narcisse für ein Gewicht?“ S.287
Vallombrum, der auf weitere Forschungsreisen verzichtet, beschäftigt sich nun mit einem nicht sehr genau geschilderten wissenschaftlichen Projekt, das er Adamologie nennt. Dabei sollen sämtliche Wissenschaften vom Menschen in irgendeiner Weise zusammengeführt und aufeinander bezogen werden. Es bleibt aber unklar, sowohl für den Protagonisten selbst als auch für die Leserschaft ob es sich dabei um eine bahnbrechende Idee handelt oder ob Villambrun zusehends den Boden der Realität verlässt.
Schließlich kommt es zu einer letzten Begegnung zwischen den beiden Protagonisten. Vallombrun besucht Narcisse, der in einem Leuchtturm arbeitet. Er will ihn nun bei dieser Begegnung so intensiv befragen, dass er seinen Widerstand aufgibt und endlich von seinem Leben in Australien erzählt. Es ist eine sehr intensive Textstelle, die aber zu lange ist um sie zu zitieren. Bei dieser Befragung kommt heraus, dass Narcisse sich als Narcisse betrachtet vor und nach seinem Leben in Australien aber dass er während dieser Zeit ein anderer war über den er nicht sprechen will oder kann.
„Wer warst du in der Zwischenzeit?“
Er hob sein verstörtes Gesicht, über das stille Tränen liefen, und sagte endlich mit schmerzerfüllter Stimme „Reden ist wie Sterben“ S 290
„Um ihn zu begreifen, bleibt mir nur sein Aphorismus, ist dieser etwa sein Abschiedsgeschenk ? „Reden ist wie Sterben“ (…)
Meine Fragen zu beantworten, bedeutete für ihn sich in höchste Gefahr zu begeben. Sterben, nicht einen klinischen Tod, sondern tot für sich und andere zu sein. Sterben, weil es unmöglich war, beide Welten zugleich zu denken. Sterben weil es unmöglich war zugleich Weißer und Wilder zu sein.
Zweimal brachte er diese unsägliche Reise von einer Welt in die andere hinter sich. Um mit den Wilden zu leben, musste er sein Matrosenleben vergessen – wer wird jemals ermessen um welchen Preis! Als er wieder unter Weißen lebte, verweigerte er sich instinktiv einer ähnlichen Prozedur und flüchtete sich in eine selbst auferlegte Amnesie. Es war ihm unmöglich, Antworten zu geben, wenn er nicht die Brücke zu seiner Festung herunterlassen und beide, Matrosen und kleinen Teufel, in einen tödlichen Kampf verwickelt sehen wollte. Sein Verstand hätte das nicht überlebt.“ S292
Narcisse flüchtet, ist irgendwo auf französischen Straßen unterwegs, jeder Kontakt zu Vallombrun bricht ab. Ein paar Jahre später stirbt Vallombrun. Seine Geschwister fechten sein Testament an: er hat praktisch das gesamte Familienvermögen dem verschwundenen Narcisse und dessen Kindern vererbt, eine große Summe soll auch an die Geographische Gesellschaft gehen unter der Bedingung, dass sie Expeditionen ausrüstet und nach den Kindern von Narcisse in Australien sucht.
Ein Roman, den ich sehr ungewöhnlich fand, der aber durchaus ein aktuelles Thema trifft. Es geht jedenfalls um Definitionen bzw Interpretationen von Zivilisation, um das Zusammenprallen verschiedener Welten und Persönlichkeiten, um Identität. Die Interpretation dieses ungewöhnlichen Romans bleibe aber den Lesenden überlassen, es gibt dafür viele Möglichkeiten
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