Einer zuviel – ABC-Etüde

Bei Christiane
Die Wörter sind diesmal von mir
3 vorgegebene Wörter (siehe unten) in einen Text von 300 Wörtern unterbringen

“ Es reicht, Schnitt, Schnitt, Schnitt !!“ schimpfte er vor sich hin, als er wieder im Flughafenbus saß. Es war wohl etwas zu laut, denn die anderen Passagiere musterten ihn teils interessiert, teils indigniert. Diese indiskreten Blick gab es in London einfach nie und so schimpfte er auch noch auf das Land, in das er geflogen war wegen seiner Mutter und wegen der blödsinnigen Idee einer Beichte nach ihrem Tod.

Der Notar beherrschte die Kunst der dramatischen Inszenierung: die Akte, die vor ihm lag, war rot. Unpassender wäre es kaum gegangen. Obwohl, in Anbetracht des Inhalts konnte man die Farbe doch ganz passend finden, blutrot wie bei frischen Verletzungen. „Wie Sie wissen, sind sie Alleinerbe“ sagte der Notar “ zu den Vermögenswerten kommen wir gleich. Ihre Mutter legte Wert darauf, dass sie zu allererst diesen Brief lesen, bevor wir über das Erbe sprechen.“

Nichtsahnend nahm er den Brief. Die Stichworte sprangen ihm entgegen. Zehn Jahre lang Leihmutter gewesen – Geld gut angelegt – Vermögen, von dem wir gelebt haben. Wie hätte ich mich entscheiden sollen? Ihr wart Zwillinge, die Auftraggeber wollten nur ein Baby, ich habe dich behalten. Er hörte die kühle Stimme seiner Mutter, die die Apokalypse sachlich zusammenfasste und nahm, wie betäubt, den Zettel entgegen auf dem ein Name und eine Adresse standen.

Das Treffen war ein Fiasko gewesen. Einer Kopie von sich selbst gegenüber zu stehen, der man aber nichts zu sagen hatte. Das genau gleiche Gesicht, Kleidung nach dem eigenen Geschmack. Ähnliche Eckdaten des bisherigen Lebens. Erschütternd genug. Von dem angeblich vorhandenen emotionalen Band zwischen Zwillingen keine Spur. Er wollte nur so schnell wie möglich wieder weg.

Sein Smartphone brummte, er hatte eine Nachricht bekommen, von dem anderen „Wollen wir die kleine Tür in der Mauer offen lassen?“ Eine neuerliche Achterbahn der Gefühle, in die andere Richtung. Er musste darüber nachdenken.

(300 Wörter)

19 Gedanken zu “Einer zuviel – ABC-Etüde

  1. Da er offenbar von nichts etwas wusste, muss er sich von dem Schock erholen, dass es ihn doppelt gibt. Ich hoffe, dass er sich für die Tür in der Mauer entscheidet.
    Der andere scheint nicht so vernagelt zu sein wie er. Passt das zu der Ähnlichkeit von Zwillingen, oder ist das nur die Überforderung?
    Morgenkaffeegrüße ☁️😉☕🥯🍩

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    1. Keine Ahnung 😉 Ich glaube jedenfalls nicht daran, dass Zwillinge, die zwar die gleiche genetische Ausstattung haben aber getrennt aufgewachsen sind, einander soooo ähnlich sind. Abgesehen von ihrem Äußeren natürlich.

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  2. Ein interessantes, gar nicht so unwahrscheinliches Gedankenspiel. Beide Zwillinge haben vermutlich Erklärungen für Vergangenes und Neudefinitionen für die Zukunft zu finden. Sollte man ihnen wünschen, dass die leiblichen Eltern, die seinerzeit nur einen der Zwillinge haben wollten, noch leben und sich beiden erklären müssen? Ich würde hoffen, das keiner „mauert“.

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  3. Als Leihmutter den Lebensunterhalt verdienen, wie krass ist das denn!
    Da hast Du uns aber ganz schön in Spannung gehalten.
    Und der Bruder öffnet eine Tür, obwohl er bei der Erbschaft nicht berücksichtigt wurde. Gut, er hat ja „seine“ eigene Familie.

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  4. Das kann wohl nur in sehr wenigen Fällen eine bewusste „Berufs“wahl sein. Prostitution ? Naja, davon leben aber eindeutig sehr viele Menschen. Manche freiwillig, andere nicht …

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  5. Spannender Ansatz. Man würde vermuten, dass das genetische Band offensichtlicher ist, aber ich glaube auch, dass das mehr aus unserem Selbstverständnis kommt, als biologischen Fakten. Interessante Geschichte!

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    1. Länger wäre sie besser geworden. So ist doch alles ziemlich „zusammengestopft“. Die Idee gefällt mir auch, die Ausführung nicht so ….Aber es kann ja nicht immer alles gelingen 😉

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