Impulswerkstatt – Zeit (Text 1 – Oktober)

Wenn ich über diesen Text noch einmal drüber ginge, würde es in Arbeit ausarten, daher bleibt er jetzt so, wie er ist und steht hier als mein erster Text zum eigenen Projekt. Aber ich habe gesehen, was das Austauschen eines Worts und das leichte Umstellen eines Satzes ausmachen kann.

Es begann an einem Sonntagmorgen in einem gemieteten Ferienhaus, in dem Bett, das sie mit ihrem Mann teilte. Sie wusste nicht, wie lange sie schon bewegungslos auf dem Rücken lag und erfolglos versuchte ihre Hand zu bewegen. Es fühlte sich an, als würde der Befehl nicht weitergeleitet, als hätte sie die Kontrolle über ihre Nervenbahnen und ihre Gliedmaßen verloren. Licht und Schatten spielten auf ihrer Hand, die Linien schienen sich zu vertiefen, die Gelenke pulsierten, die Finger begannen, sich ganz leicht zu bewegen.

Sie war nicht sicher, ob sie überhaupt schon wach war. Zwar waren ihre Augen offen, sie konnte die Umgebung wahrnehmen, das Bett, das Fenster, den noch schlafenden Ludovic neben sich, aber alles erschien unwirklich und leicht verschwommen. Wie in einem Traum, der doch kein Traum war. Ihre dumpfen, langsamen Gedanken konnten begonnene logische Ketten nicht weiterführen, sie fielen auseinander, verknäuelten sich und eine Beurteilung der Situation war unmöglich.

Sehr langsam wurde alles wieder etwas klarer. Sie wollte sich ihrem Mann zuwenden, die vertraute, fließende Bewegung machen, mit der sie den Tag meistens begann. Doch das Drehen ihres Körpers geriet zu einem stockenden, schmerzhaften Holpern. Sie konnte die Knie kaum abbiegen, der Arm, den sie um Ludovic legen wollte, war so schwer, dass sie ihn fast nicht heben konnte. Nur mit großer Mühe gelang ihr die Bewegung. Ihre Benommenheit vernebelte die aufsteigenden Panik.

Durch die Berührung, die sich ganz anders anfühlte als sonst, wachte Ludovic auf. Er gähnte und wollte sie an sich ziehen. Ihre Angst, durch seine Berührung könnte sie auseinanderbrechen. Sein Entsetzen, ihr Oberschenkel ähnelte in seiner Struktur einer Gebirgslandschaft: scharfe Spitzen, tiefe Täler, die Haut grau, überdehnt, an manchen Stellen runzlig.

Er fuhr hoch, sah die veränderte Frau neben sich, wollte irgendetwas tun und konnte es nicht. Sie bewegte mühsam und extrem langsam ihren Arm. Er meinte die Bitte zu verstehen, ihr beim Aufstehen zu helfen.

Auf Ludovic gestützt, torkelte sie hinaus, versuchte sich zu orientieren um ans Meer zu finden. Alle Muskeln, Bänder, Gelenke versagten den Dienst. Sie konnte ihre Beine nur noch durch ein Schieben der Füße bewegen, das ihre gesamte verbliebene Kraft und Konzentration erforderte. Ein Gedankenfetzen schlängelte sich irgendwie durch ihren Kopf: es musste wohl sehr kalt sein, die Haut in ihrem Gesicht, die vor kurzem brennend heiß gewesen war, fühlte nicht einmal den Wind, der doch vom Strand heraufkommen musste. Ihre Hände sahen plötzlich alt aus, die Adern traten stark hervor und wirkten grau und verfestigt, die Nägel glänzten metallisch.  Sie konnte auch nicht fühlen, ob sie nackt war. Ihre Nervenenden waren ebenso tot wie der Geruchssinn. Der Algengeruch drang nicht mehr durch. Alles versagte.

Der Weg an den Strand hinunter war nicht weit. Steine lagen im Sand, bildeten einen unregelmäßigen Kreis. Der Wind modulierte das Gras der Dünen. Ihre Augen fokussierten nicht mehr. In undefinierter Entfernung konnte sie ihren Mann sehen, dessen Blick starr wurde, dessen Mund hilflos geöffnet blieb.

Ludovic hielt sie auf den Beinen, half ihr ihre Füße vorzuschieben. Aber jetzt fühlte auch er die Kälte, die durch seinen Körper kroch, er merkte, wie seine Wirbelsäule steif wurde und seine Beine sich so streckten, dass ein Biegen nicht mehr möglich schien. Sein Hals erstarrte in einer leichten Drehung.

Sie standen eng beisammen, ihre Sinneswahrnehmungen erloschen, ihre Körper verschmolzen, bildeten neue Strukturen, Winkel, Zusammenhänge. Das neue Fleisch war hart, war körnig und ließ sie in eine fast unendlich langsam fließende, elastische Zeit hineingleiten.

Manchmal sitzen Seevögel auf dem Doppel-Stein, viele Vogel-Generationen später könnte ein sehr aufmerksamer Beobachter vielleicht eine Reaktion darauf feststellen.

45 Gedanken zu “Impulswerkstatt – Zeit (Text 1 – Oktober)

  1. Sehr dicht und spannend. Ich weiß nicht, ob ich bis zum Ende einmal geatmet habe, ich glaube nicht.
    Die Innenschau, in die du deine Leserin zwingst, ist total beklemmend. Es war, als fühle ich die Veränderungen selbst. Sehr tröstlich finde ich die relativ gute Verständigung und das Einvernehmen innerhalb des Paares. Als habe der Mann entschieden, sich zu identifizieren und so mit ihr zu gehen.
    Seltsam, ich habe spontan auch die Idee gehabt, den Vorgang der Verwandlung vom Lebewesen in diesen Stein zu beschreiben, habe meinen Schreibfähigkeiten aber nicht getraut. Um so größer ist meine Bewunderung, wie bravourös dir das gelungen ist.

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    1. Herzlichen Dank für das viele Lob. Eine so empathische Leserin wie dich kann man sich nur wünschen! Das Beschreiben der Veränderung fand ich eigentlich nicht schwer, das Drumherum schon. In der Idee wäre noch eine Menge drin: Verlangsamung des Lebensrhythmus, Auflehnen oder Hinnehmen von Schicksalsschlägen, aber sowas schreibt man nicht an einem Nachmittag. Also in Anbetracht der Kürze und der Beschränkung der Möglichkeiten finde ich es ganz gut.

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      1. Die Textlänge ist tatsächlich ein kritischer Punkt beim Bloggen, obwohl ich die LeserInnen in „unserem Umfeld“ schon für sehr wohlwollend und belastbar halte. Aber bei Blogbeiträgen schreibt immer das Bewusstsein mit, dass es nicht ausufern soll. Was manchen Texten allerdings sehr guttut.

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        1. Hihi, „belastbar“ ist gut. Ohja ich denke auch „wir haben“ einige Leser*innen, die tatsächlich lesen und nicht nur ein Like anklicken. Nicht dass mich das like nicht freuen würde, aber das liegt auf einer anderen Ebene.

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  2. Ich muss natürlich wieder mal aus der Reihe tanzen. Es gefällt mir, sogar sehr, ich finde es auch beklemmend dicht, ich habe auch am Anfang an einen Schlaganfall gedacht, bis ich begriffen habe, worauf es hinausläuft.
    Aber: Mir fehlt was, es ist mir noch nicht rund genug. Blöderweise kann ich nicht den Finger drauflegen und „das“ sagen. Ich denke weiter drüber nach.
    (Internetausfall die letzten beiden Tage. Blog ohne WLAN stark eingeschränkt. Jetzt geht es wieder, toi, toi, toi.)
    Morgenkaffeegruß 😁☕⛅👍

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    1. Vielen Dank für das Lob und mindestens genauso vielen für das „aber“. Ich verstehe, was du meinst und habe zwei Theorien, was es sein könnte: die geringe Charakterisierung der Personen und das plötzliche Hineinfallen in den Text oder der letzte Satz, den ich schlecht finde (ich wollte aber fertig werden) Mir gefällt der vorletzte Absatz sehr gut und ich wollte eben noch eine Abrundung am Ende, die ich jetzt aber nicht gelungen finde. Würde mich sehr interessieren zu hören, was es ist, das dich irritiert.
      So ein WLAN-Ausfall ist beim Bloggen immer EXTREM lästig. Außerdem fehlst du, wenn du nicht online bist ❤ .

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      1. Nee, weder noch, so viel weiß ich. Ja, ich teile deine Kritik am letzten Satz, aber das ist es nicht. Ich melde mich, wenn ich mein Unbehagen verbalisieren kann.
        Und danke für die netten Blumen 🌼❤️

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  3. Ein guter Text, eine bekemmende Geschichte. Ein langsames Versteinern zu spüren muss grauenvoll sein.
    Sind die beiden an einem magischen Ort?
    Stehen da viele Steine, bei denen man denken könnte, das könnte doch mal ein Mensch gewesen sein?
    Haben sie in einem seltsamen Restaurant gegessen?
    Ein Meerestier getötet/gequält und das Meer schickt die Bestrafung nun cm für cm … ?

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  4. Deine sehr eindrückliche Schilderung erinnert mich stark an Ovids Metamorphosen. Insofern entbehre auch ich, wie Bruni, eine Vorgeschichte, einen Rahmen. Aber dies Entbehren ist durchaus notwendig, denn heute würde ein göttliches Handeln, das solche Transformationen bei Ovid begründet, doch sehr aus der Zeit gefallen erscheinen. Heute geschieht „grundlos“, was geschieht, uns es bleibt beim dumpfen Erschauern und tiefen Leiden am Unverstandenen.

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