„Kälte, die Happy-end-Version“ SP20 #3b

Elisabeth saß auf der Parkbank neben Erich. Es war Erichs Bank. Hier verbrachte er den Tag, hier sortierte er gerne seine Besitztümer in verschiedene Behälter und Tragtaschen, im Sommer schlief er hier auch manchmal. Die Lage fand er ideal: im vorderen Bereich eines Parks, neben einem Eingang zur U-Bahn für die ganz kalten Tage und gegenüber ein Supermarkt mit großen Containern in denen täglich eine Überfülle an Esswaren landete. Die Angestellten ließen die Tore zum Müllplatz manchmal unversperrt, aber darauf war Erich nicht angewiesen. Er hatte es über viele Wege und Windungen aus seinem alten Leben zu einem Schlüssel zu dem üppigen Müllplatz gebracht. Eigentlich war er das, was man in der Leistungsgesellschaft einen tüchtigen Menschen nannte. Er schöpfte die begrenzten Möglichkeiten seiner aktuellen Lage voll aus.

Die junge Frau, die uneingeladen aufgetaucht war, kannte er schon seit ein paar Monaten. Als sie sich das erste Mal auf seine Bank setzte, wollte er grob werden und seine Besitzansprüche ganz deutlich machen, aber sie schlotterte vor Kälte und war nicht in der Lage weiterzugehen. Seltsam sah sie aus für einen Platz auf dieser Parkbank. Seltsam war auch, dass ihr Schüttelfrost langsam aufhörte, dass sie nach einer Weile sogar ihre Jacke auszog, den langen Schal über die Lehne der Bank hängte. Die Handschuhe landeten in ihrer Tasche und sie schaute sich um.

In der näheren Umgebung war Erich nicht der einzige Parkbankbewohner. Etwas weiter hinten hatten Marianne und Oskar zwei Bänke nahe nebeneinander geschoben und ihren Einkaufswagen aus dem Supermarkt dazwischen geparkt. An manchen Tagen wurden die Bänke von einem Parkaufseher oder sonst jemandem wieder auseinandergestellt. Es blieb nicht lange so.

Mit etwas gutem Willen und großzügiger Auslegung des Begriffs konnte man Marianne und Oskar als Paar bezeichnen. Beide waren sie auf ihre Art verschroben und eigenbrötlerisch und kamen selten mit jemandem länger aus. In ihrer Beziehung zueinander machten sie da gelegentlich eine Ausnahme. Wenn sie auch nicht gerade ein harmonisches Paar waren, so fanden sie doch immer wieder zusammen und es gab auch Tage an denen sie gemeinsam Erich besuchten und zu dritt die nächtlichen Erwerbungen aus den Supermarktcontainern genossen. So viel sozialer Umgang reichte ihnen dann aber für eine Weile und oft zogen sie dann auch getrennt durch andere Bezirke.

Elisabeth erinnerte sich gut an diesen ersten Tag auf der Parkbank. Sie brauchte eine Weile bis sie Erichs unfreundliche Blicke bemerkte. Die Kälte hatte sie völlig eingeschlossen, von der Welt isoliert. Ihre Knochen und Gelenke fühlten sich an wie vereist und nahe am  Splittern. Sie hatte so stark gezittert, dass sie sich kaum noch in der Lage gefühlt hatte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, nicht einmal für die wenigen Schritte, die vor ihr lagen. So fiel sie auf die Parkbank und klammerte sich an die Lehne in der Hoffnung das Zittern dadurch etwas einzudämmen. Und wirklich wurde ihr nach einer Weile langsam immer wärmer, eine Energiewelle durchflutete ihren Körper, ihre Temperatur stieg an, Muskeln und Sehnen wurden wieder geschmeidiger. Sie begann sich umzusehen. Und nach einer Weile hatte sie sich so gut aufgewärmt, dass sie weitergehen konnte.

Zum ersten Mal seit langer Zeit erschien ihr der Marmorboden ihrer Eingangshalle nicht als unendliche, kalte Fläche, die sie wie eine Polarforscherin mit letzter Kraft durchqueren musste. Sie sah wieder die feine rosa-graue Marmorierung im weißen Stein und die schönen Proportionen des Raums, der Schwung des Jugendstil-Geländers der Treppe in den ersten Stock fiel ihr auf und die Schattenmuster an den Wänden der Galerie. Sie war zuhause und es war ihr nicht kalt.

Doch nach ein paar Tagen war alles wie vorher, die Kälte hatte sie wieder eingeholt. Der Schüttelfrost kam immer wieder, unter mehreren Daunendecken und mehreren Schichten von Bekleidung bei 25 Grad im Raum fror sie auch nachts erbärmlich.

Bei den zahlreichen Untersuchungen, die sie in den letzten Wochen absolviert hatte, konnte nichts weiter festgestellt werden als eine starke Untertemperatur, deren Ursache nicht geklärt werden konnte. Die Kälte war schlimm, noch schlimmer war, dass ihre Beziehungen und Kontakte zu anderen Menschen immer weniger wurden, dass die Kälte sie in jeder Hinsicht isolierte.

Auf ihrem Weg von der Privatklinik, auf die sie so große Hoffnungen gesetzt hatte, bis zum Parkplatz wo ihr Auto mit oder ohne Chauffeur auf sie wartete, musste sie den Park mit Erichs Bank durchqueren. Mehrmals schon hatte sie sich zu ihm gesetzt und jedes Mal trat der unerklärliche Erwärmungseffekt ein, der dann ein paar Tage andauerte. War die Erwärmung auf die Klinik zurückzuführen? Das konnte nicht sein, denn dort wurden nur Untersuchungen durchgeführt. Zufälle, deren Ursache nicht ergründet werden konnten? Zyklische Vorgänge im Organismus? Oder vielleicht doch der Park, die Bank, der Obdachlose? War es aber der Ort, oder die konkrete Person, oder jeder Obdachlose?

Elisabeth suchte verzweifelt nach Lösungen. Die Medizin hatte ihr nichts zu bieten, so wendete sie sich der Psychologie zu und konsultierte mehrere Größen auf diesem Gebiet. „Überschießende Psychosomatik“, „extreme Empathie“. Diese Diagnosen halfen ihr nicht weiter. Das Angebot eines Psychoanalytikers in Therapiesitzungen zwei- oder dreimal die Woche ihre Kindheit zu durchforsten, lehnte sie ab. Sie brauchte schnellere Lösungen.

Als junger Erbin eines sehr beträchtlichen Vermögens, die obendrein gerade ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen hatte, boten sich ihr ebenso weit gefächerte wie interessante Einstiegsmöglichkeiten ins Berufsleben. Theoretisch zumindest. Als ständig vor Kälte zitternder junger Frau, die darauf angewiesen war in regelmäßigen Abständen, ja, was eigentlich zu tun, um ihre Körpertemperatur zu halten, boten sich ihr nur sehr wenige Möglichkeiten und keine davon gefiel ihr.

Monatelang besuchte Elisabeth Erich regelmäßig. Er war einer der ganz wenigen Menschen, die sie noch regelmäßig sah. Die Kälte und die Verzweiflung lähmten sie lange, aber Elisabeth war eine strukturierte, systematisch vorgehende Frau und als ihre Lebensgeister zurückkehrten, begann sie  in der ganzen Stadt nach Obdachlosen zu suchen und Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Sie hörte viele Lebensgeschichten, musste aber auch feststellen, dass keiner der vielen Menschen, die sie mehr oder weniger kennenlernte die gleiche starke Wirkung auf sie hatte wie Erich. Aber die Wirkung war kumulativ, hatte sie eine kleine Gruppe von Obdachlosen um sich, so wurde ihr ebenso warm wie wenn sie eine Stunde bei Erich war.

Ihre Erleichterung war unendlich. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was hätte sein können, wenn nur Erich zwischen ihr und der Kälte gestanden wäre.

Das Gebäude, das Elisabeth sorgfältig ausgesucht hatte, war völlig renoviert worden. Es verfügte über Schlafplätze, Sanitäranlagen, eine Küche mit Speisesaal, Aufenthaltsräume und ein Lager für Bekleidung. Mehrere Angestellte kümmerten sich um die Organisation dieses neuen Obdachlosenheims und seine Besitzerin und Geschäftsführerin Elisabeth kam, ebenso wie viele Obdachlose, regelmäßig vorbei um sich zu wärmen.

18 Gedanken zu “„Kälte, die Happy-end-Version“ SP20 #3b

  1. Da du offenbar auch keine Ahnung hast, wie du die Ärmste aus ihrem Frieren wieder herausbekommst, finde ich diese Lösung besser. Wenn sie unheilbar erkrankt ist, die Wirkung kumulativ ist und sie ein kaufmännisches Studium hinter sich hat, ist es eine Lebensaufgabe, die sie sich gesucht hat – und sie tut dabei ja auch noch was für sich selbst, handelt also nicht völlig altruistisch. Das finde ich nicht kitschig, du hast es halt nur sehr kurz geschildert.
    Der letzte Satz ist gut 😁!
    Liebe Grüße
    Christiane 😁☕🍪🌧️👍

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    1. Ich bin sehr zufrieden, weil ich eine Menge gelernt habe, auch Dank dir. ❤ Ich hätte jetzt richtig Lust, die Personen zu bearbeiten zB Marianne und Oscar. So ein Puzzle aus verschiedenen Personen, die dann in einen gemeinsamen Hintergrund eingebaut werden können …… Auf jeden Fall viel aufwändiger als ich gedacht hätte. Aber es reizt mich

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  2. Die Idee und auch das Ende gefallen mir wirklich gut. Ich mag es, dass du die Kälte nicht aufklärst oder löst. Es kann was Mystisches aber auch was Normales sein, vllt ist es auch nur eine Metapher. Ich glaube, dass gefällt mir am besten. Quasi dass ihr die menschliche Wärme und Empathie in der Geschäftswelt abhanden kommt. Wirklich toll.
    Grüße, Katharina

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  3. Ich finde dieses Ende auch nicht kitschig. Eher folgerichtig für sie. Und dadurch sehr rund. Was hätte sie nur ohne die kumulative Wirkung gemacht? So ist sie ja fein raus, dann aber würde es richtig spannend in meinen Augen 😁
    Lieber Gruß
    Andrea

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    1. Spannend schon, aber es muss dann auch irgendeine Lösung her und die ist mir (noch) nicht eingefallen. Außer, dass das Frieren einfach aufhört ohne dass man weiß warum. Könnte auch reizvoll sein, aber das wäre dann noch eine dritte Version

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  4. Ein gutes Ende, das kein endgltiges Ende sein sollte. Ich kann mir eine Fortsetzung gut vorstellen, eine, in der Erich eine besondere Stelle erhalten wird, denn er scheint die Initialzündung doch ausgelöst zu haben.

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  5. Liebe Myriade,
    Das unerträglich Frieren finde ich eine reizvolleIdee.
    beide Varianten haben ihren Reiz, wobei ich finde ,dass du das Ende beide Male etwas hopplahopp kommen lässt.
    Ich könnte mir sogar beides und damit eine wendungsreichere Geschichte vorstellen, Erich lässt sich erst von Oscar zu Erpressung (wenn vielleicht auch nicht unbedingt zu Gewalt) überreden oder es ist sogar seine Idee und dann kommt es doch zu einer anderen Lösung – könnte ich mir ziemlich spannend vorstellen, auch wenn dabei vielleicht angedeutet wird, worin Erichs heilendes Talent begründet liegt

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    1. „Hopplahopp“ trifft die Sache sehr gut 😉 Ich habe auch schon daran gedacht, dass ich die beiden Versionen zu einer hätte vereinen können, aber ich habe es ja eilig gehabt, was sich als immer größerer Irrtum herausstellt.

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  6. Ich finde zwar auch die Idee des pathologischen Frierens interessant, habe aber der Idee, dass die Nähe zu einem Obdachlosen ihr Linderung verschaftt, schon in der ersten Variante nicht sonderlich gemocht. Dass sie nun ihr Erbe in ein Obdachlosenheim teilinvestiert und damit ihr Frieren unter Kontrolle bringt, hat zwar eine gewisse Logik, doch ist es natürlich weit von einer Heilung oder einem Verständnis ihrer Symptomatik entfernt. Mir ist das alles zu stereotyp. Ich hätte gern, dass die persönliche Krankengeschichte entwickelt wird und sich aus dieser dann auch die Lösung ergibt (falls es denn eine gibt).
    Trotz meiner Nörgelei: dass du zwei unterschiedliche Lösungen andeutest, finde ich einen interessanten Ansatz.

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    1. Ich nenne das nicht „nörgeln“ sondern konstruktive Kritik und schätze es sehr.
      So wie du es siehst, hätte es eine psychologische Studie werden müssen, also mindestens dreimal so lang. Wäre natürlich auch interessant. Wobei so wie ich die Geschichte gesehen habe der Grund für das Frieren nicht feststellbar und auch nicht so wichtig ist.

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  7. Also ich finde das Ende dieser Version ganz furchtbar. Das ist was für harmoniesüchtige Leser, die mit den Problemen im eigenen Leben nicht klarkommen. Das ist viel zu glatt, viel zu reibungslos, das legt der ambitionierte Leser gleich ab unter brauch ich nicht mehr. Daran haben vielleicht Nicholas-Sparks-Fans ihre Freude.
    In jeder Tragödie steckt auch etwas lustiges und in jeder Komödie etwas tragisches. Was du da fabriziert hast, geht gar nicht. Es gibt solche Geschichten aus dem echten Leben, aber die lesen sich dann anders. An dieser Stelle (wegen der Obdachlosen) sei das Buch »Unter Palmen aus Stahl« von Dominik Bloh empfohlen.
    Du kannst schreiben, so viel ist sicher. Allerdings musst du dem Inhalt noch mehr Aufmerksamkeit widmen als der Form. Mir erschließt sich halt nicht. warum man da unbedingt strategisch vorgehen muss, irgendwelche Pläne machen, Zeitstrahl, etc. Kann man nicht einfach viel besser drauflosschreiben, sobald einem eine Geschichte eingefallen ist?

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    1. Danke für den ausführlichen Kommentar.! Also, Nicholas Spark ist ganz eindeutig nicht mein Held. 🙂 Mir kommt vor, es ist sehr viel schwerer etwas Undramatisches, Unspektakuläres womöglich Positives zu schreiben als große Katastrophen jeder Art. Da landet man sehr leicht und schnell im Kitsch, ebenso wie man auf der anderen Seite bei hirnloser Action andockt.
      Die Palmen aus Stahl klingen interessant. Diese Art Bücher muss man unbedingt lesen, wenn man eine einigermaßen glaubhafte Milieuschilderung hinlegen möchte.
      Ich schreibe ohnehin drauf los, was für kurze Texte bestens funktioniert. Aber wenn die Geschichte etwas komplizierter und länger wird, braucht es offenbar doch einen Plan weil die große Idee die Details nicht vorhersieht und die Handlung sich dann blockieren und verwirren kann …
      Es ist auf jeden Fall ein faszinierender Weg, den ich gerade erst begonnen habe.

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      1. Ich gebe dir sehr recht, etwas zu schreiben, was harmonisch ist, wird kaum jemals spannend sein, wird kaum jemals jemanden so fesseln, wie eine Geschichte, in der es auf und ab, drunter und drüber geht.
        Bleib einfach dabei, draufloszuschreiben! Bitte! Denn wenn der Gedanke, die Idee, die Handlung, die du im Kopf hast, Stoff für drei- oder fünfhundert und mehr Seiten bietet, geht das Schreiben wie von selbst. Die Charaktere entwickeln sich in der Geschichte. Es gibt zu viele Theoretiker, die gerne alles wissen, genau wissen wie es geht. Und warum machen sie es dann nicht? Hör auf dein Inneres und wenn das sagt schreib drauflos! Ja, warum nicht?

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