77. Station meiner Literatur- und Kunstweltreise – Rwanda und Burundi

Hier geht´s zu meiner Literatur- und Kunstweltreise

Schon vor einer Weile habe ich dieses Buch fertig gelesen. Ich hatte es zwischen die chassidischen Juden in Brooklyn und die neuesten Forschungsergebnisse über Neandertaler eingeschoben, weil ich sehr neugierig war.

Die Ich-Erzählerin ist eine Tutsi aus Rwanda, die schon als Jugendliche oder junge Erwachsene als Asylantin im Nachbarland Burundi lebt und dort eine Schule für Sozialarbeiterinnen besucht. Ihr Vater meint, wohl zurecht, dass eine Tutsi in Burundi nur über Schulbesuch, Bildung und den Erwerb eines Diploms überhaupt überleben kann und so finden wir zu Beginn der Erzählung die Protagonistin als eine von vielen Flüchtlingen aus Rwanda in Burundi.

Eine Kurzbiographie von Scholastique Mukasonga aus der für solche Zwecke unerreichten Wikipedia:


Mukasonga wurde 1956 in der damaligen Provinz Gikongoro in eine Tutsifamilie geboren. Sie musste schon in ihrer Kindheit die Gewalt und Demütigungen des ethnischen Konflikts in Ruanda erfahren. 1960 wurde ihre Familie mit anderen Tutsi nach Nyamata deportiert. Bevor sie 1973 nach Burundi ins Exil vertrieben wurde, ging sie ins Lycée Notre-Dame de Citeaux in Kigali, wo sie im Rahmen der Quote von 10 % für Tutsi aufgenommen wurde, und in eine Schule für Sozialarbeit in Kigali. Ihre Erlebnisse im Lycée spiegeln sich im Buch Die Heilige Jungfrau vom Nil. In Burundi schloss Mukasonga ihre Ausbildung zur Sozialarbeiterin ab und arbeitete dann für die UNICEF und die Weltbank. Sie heiratete einen Franzosen, ging mit ihm nach Dschibuti und 1992 nach Frankreich.[1] Ihre Zeit in Burundi, Dschibuti und den Beginn ihres Lebens in Frankreich schildert sie in dem autobiographischen Roman Un si beau diplôme! Sie lebt heute mit ihrer Familie in der Normandie. Ein Großteil ihrer Familie fiel dem Völkermord in Ruanda 1994 zum Opfer.

Vieles an diesem Roman, der eigentlich kein Roman ist sondern eine Art stark verlängerte Kurzgeschichte, hat mir zunächst nicht gefallen. Alle Figuren sind unglaublich flach, sie werden nur kurz aus den Schatten herausgeholt um ein paar Sätze über sie zu sagen, dann verschwinden sie wieder. Die einzige Ausnahme ist vielleicht der Vater. Die Mutter und die Geschwister ebenso wie der Ehemann und die Kinder, andere Verwandte, Freundinnen, sonstige Menschen, die in ihrem Leben vorkommen, bleiben unscharf umrissene Schatten. Dennoch habe ich den Text gern gelesen.

Es gibt nur einen Erzählstrang. die Geschichte der Ich-Erzählerin und ihres Diploms, das eine Art Leitmotiv ist, das im Laufe der Geschehnisse durch ein weiteres Diplom verstärkt wird. Die Handlung beginnt in ihrer Zeit als Schülerin in Burundi, überspringt dann sehr viel, setzt bei ihrem Leben in Frankreich und Dschibuti wieder ein und kommt schließlich zum emotionalen Höhepunkt der Erzählung: ihr(e) Besuch(e) in ihrem Heimatort in Rwanda nach dem Genozid, nachdem praktisch ihre ganze Familie und ihre Freunde ermordet wurden.

Der in ein Genozid mündende Konflikt zwischen Tutsis und Hutus war das Thema, das ich in diesem Buch erwartet habe und das natürlich auch vorhanden ist. Es wird aber auf eine sehr leise Art erzählt, in manchen kleinen Szenen und Nebensätzen bis es am Ende des Buchs gewaltig aufsteigt.

Das Buch beginnt mit dem Thema Diplom

„J´ai passé la moitié de ma vie à courir aprés un diplôme. Ce n´était pourtant pas une thèse de doctorat (…) mas un modeste diplôme d´assistante sociale“ p. 11″
Ich habe die Hälfte meines Lebens damit verbracht einem Diplom nachzujagen, nicht einem Doktorat sondern einem bescheidenen Abschluss zur Sozialarbeiterin.

Die Autorin erzählt, dass sie als Kind in der Schule täglich ein vom Lehrer verfasstes Lied singen musste, in welchem ein gewisser Fidèle Rwambuka geehrt wurde, ein lokaler Held, der als erster Einwohner seiner Ortschaft ein Diplom erworben hatte. Der Text des Liedes (in freier Übersetzung wie alle Textstellen) :

Fidèle Rwambuka!
Seien wir stolz auf ihn!
Feiern wir seinen Heldenmut!
Das schöne Diplom (idipolomi), er hat es in Gisaka erworben
und mit nachhause gebracht
Er ist der Sohn von Mihigo
er ist hier geboren, er ist von hier, aus Musenyi
Hurra, hurra, hurra
Sei unser Held für immer.

Aufgrund dieses Diploms – niemand weiß, um welche Art Diplom es sich da handelt- wird Fidèle Rwambuka Bürgermeister.
Die Autorin erzählt, wie stolz sie als Kind dieses Loblied gesungen hat, aber …

„Comment aurais-je imaginé qu´en1992 il serait le premier à organiser le massacre des Tutsis de Nyamata, prélude au génocide de 1994“ p.12 (Wie hätte ich ahnen können, dass er (Fidèle Rwambuka) 1992 der erste sein würde, der das Massaker der Tutsis in Nyamata organisierte, das Vorspiel zum Völkermord von 1994!

Nur in Nebensätzen erfahren wir doch einiges über das Genozid und die vorangegangene Situation in Rwuanda und Burundi. Zum Beispiel, dass auf den Personalausweisen TUTSI stand, wodurch für die Besitzer dieser Ausweise im besten Fall nur viele Türen verschlossen blieben.

Der Stil der Autorin ist, im Großen und Ganzen eher kühl und unemotional. Die Ausnahme ist ein sehr starkes Kapitel in dem beschrieben wird, wie die Erzählerin Jahre nach dem Massaker in ihren Ort, Nyamata zurückkommt. Sie sucht die Parzelle auf der das Haus ihrer Eltern stand und den Standplatz ihres Vaters auf einem Markt.

Kanzenze, cétait le nom que les autorités avaient attribué à Nyamata. Un témoin disait au journaliste "À Kanzenze les vivants sont le dixième des morts". Cela signifiait, traduisait le journaliste, que neuf personnes sur dix avaient été tuées. À la fin du mois de juin, une lettre m´apprendrait qu`à Gitagata c´était dix sur dix. p.169
(Kanzenze war der Name, den die Behörden Nyamata gegeben hatten. Ein Zeuge sagte zu einem Journalisten „In Kanzenze sind die Lebenden ein Zentel der Toten“ Was bedeutete, so übersetzte der Journalist, dass neun von zehn Menschen getötet worden waren. Ende Juni sollte ich einen Brief erhalten, der mir mitteilte, dass es in Gitagata zehn von zehn waren.“

Man erfährt, dass die Erzählerin mit einem in Rwanda lebenden und arbeitenden Franzosen verheiratet ist und mit ihm mindestens zwei Kinder hat. Auch das wäre ein interessantes Thema gewesen, wird aber zumindest in diesem Buch nicht verfolgt. Eine einzige Szene beschäftigt sich mit den Kindern. Die Autorin schreibt, dass ihre Kinder schließlich auch Tutsis seien und somit Anspruch hätten auf die besonders gute Milch der Rinderherden des Volks der Tutsis. Aus diesem Grund fährt sie mit ihrem Mann immer wieder illegal nachts über die Grenze nach Burundi zu einem der wenigen noch vorhandenen Tutsi-Rinderhirten und kauft bei ihm frische Milch. Der Freundeskreis des Paars findet diese Ausflüge geradezu selbstmörderisch gefährlich, findet aber kein Gehör.

Es gibt auch noch andere Abschnitte, die mich beeindruckt haben. Etwa die eher witzige Erzählung über die Ferienzeit, die die Autorin gemeinsam mit einer Freundin bei deren Bruder verbracht hat, der so eine Art Mädchen für alles bei einer europäischen Dame ist. Oder auch die Erzählung davon, wie in Frankreich ihr hochgeschätztes Diplom nicht anerkannt wird und sie nach zahlreichen Besuchen bei Behörden und Beratungsstellen erkennt, dass ihr nichts anderes übrig bleibt als die Sozialarbeiter-Ausbildung nochmals zu machen.

Dieses Buch ist für mich die Fortsetzung einer Reihe von Texten von afrikanischen Autor*innen, die ich – immer mit Dazwischenschalten anderer Lektüre- konsumieren werde.

8 Gedanken zu “77. Station meiner Literatur- und Kunstweltreise – Rwanda und Burundi

  1. wieder eine interessante Besprechung. Danke. Ich überlege, wie ein Mensch, der all das erlebt hat, das Geschehen anders als „flach“ wiedergeben kann. In die Tiefe gehen kann sie wohl nicht unter der Einwirkung eines fürchterlichen Traumas. Denn dort, in der Tiefe, liegt all das, was sie nicht ansehen kann. Der „Diplom“ ist eine Oberfläche, an der sie sich abarbeiten kann.

    Gefällt 1 Person

        1. Das ist sicher so. Die Frage ist, ob es unbedingt in jedem Fall gut und sinnvoll ist, sich einem Trauma zu stellen und ob es nicht zwischen sich stellen und verdrängen noch ein paar andere Möglichkeiten gibt. Ich weiß es nicht, ich frage mich nur

          Gefällt 1 Person

          1. Vor 50/ 60 /70 Jahren gab es ja m.e den Glauben, man könnte Traumen „einfach“ mal so angehen. Ich hatte mich vor 35 Jahren auch mal (peripher) damit befasst.
            Aus meiner persönlichen Sicht- und die ist wirklich persönlich – kann man nicht alles kurieren.
            Nur dann, wenn Leben absolut nicht mehr möglich ist, muss man bestimmt in betreute Traumaarbeit gehen.

            Like

  2. Sehr schöne Besprechung. Das Thema ist so schrecklich – selbst das Lesen muss schmerzhaft gewesen sein. Es jagt mir einen kalten Schauder den Rücken herab. Das Diplom als Rettungsanker … in einer völlig aus den Fugen geratenen Welt.

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar