Etüdensommerintermezzo bei Christiane
Aktenzahl: II-18/2
Aufgabe: unter Verwendung von 10 dieser Wörter einen beliebig langen Text schreiben.
Zweiter Durchgang. Diesmal ist das „Ich“ fiktiv. Es gibt nur gewisse Anklänge an meine aktuelle Lage.
Lange war ich eine Suchende, lange wusste ich nicht, was an meinem Leben grundlegend falsch war. Bis ein ganz kleines Erlebnis mir eine ganz große Einsicht bescherte. Über das leicht gezackte, vielfältig geäderte Blatt eines Ribiselstrauchs bewegte sich ein Wassertropfen. Er bewegte sich, aber so gemächlich, dass es nur bei geduldiger Betrachtung zu bemerken war. Die Bewegung war so langsam, dass dem Tropfen ständig viele mögliche Fließrouten zur Verfügung standen. Er konnte ganz gerade hinunterfallen, er konnte mäandern oder in hunderten möglichen Verzweigungen das Blatt überqueren. Er konnte eine Johannisbeere umfließen, durch das Holz durchsickern oder darüber hinwegtropfen. Bei jedem Windhauch boten sich neue Wege und Richtungen. Und die gleichen unendlichen Möglichkeiten hatte er auf jedem weiteren Blatt seines Wegs. Manchmal vereinigte sich der Tropfen mit einem anderen und gewann dadurch neue Energie, eröffnete neue mögliche Wege. Die Waldeinsamkeit, in die ich mich zurückgezogen hatte um unbeobachtet hinkend spazieren zu können, wurde zu einer überwältigenden Demonstration der Kraft, die nicht nur in der Ruhe sondern auch in der Langsamkeit liegt.
Meine neue Philosophie sprach sich schnell herum. Die Flüsterpropaganda verbreitete, dass ich von einem Langsamkeitswahn befallen sei. Es amüsierte mich. Meine Erkenntnis war so umfassend bereichernd, dass Sarkasmus an mir abperlte. Mein Leben gewann an Qualität und ich möchte fast sagen an Weisheit
Ich gesellte mich öfters zu meinem geschätzten Freundeskreis der Verhaltensforscher, die beim Heurigen „Konrads Graugans“ unter sommerlichen Lampions und schattenspendendem Weinlaub über Gott und die Welt diskutierten und philosophierten. Hinken und Langsamkeit hin oder her fand ich mich hier ebenso geschätzt und integriert wie immer.
Die jedenfalls ironisch gemeinte Frage, ob ich auch beim Denken auf Langsamkeit setzen würde, fand ich durchaus überlegenswert. Die Denkgeschwindigkeit ist ja nichts, was der Mensch selbst bestimmen kann, wohl aber die Richtung des Denkens: nur geradeaus in eingefahrenen Bahnen oder unter Berücksichtigung der Verzweigungen des Blattes und der Welt und der Bedeutung des Windhauchs, der die Situation grundlegend verändern kann. Recht beachtlich wie weit man die Analogie mit dem Wassertropfen auf dem Blatt treiben kann, meinten die Freunde. Zwar sahen sie sich dem Sarkasmus verpflichtet aber auch der intellektuellen Redlichkeit.
So hinkte ich zwar immer noch und die sommerlich allgegenwärtigen Wanderbaustellen zwangen mich zu ermüdenden Umwegen oder Durchquerungen von Baustellenwüsten, die von Stolperfallen nur so wimmelten, aber in einem metaphorischen Sinn hörte ich meine Schritte in Richtung Walhalla klingen.
Wenn ich mir das so durchlese, ist das Ich vielleicht doch nicht so ganz fiktiv …..
ich bin echt begeistert, wie schön man das beschreiben kann, hab einen guten Tag.
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Danke, du auch
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Ich habe mich beim Lesen das auch gefragt, ob es da nicht mehr Anklänge gibt als nur eine gewisse eingeschränkte Beweglichkeit 😀
Ach, was wünschte ich mir dieser Tage, dass alle mal innehielten und ihr Hirn anschmissen. So vorhanden. Man hat da ja so seine Befürchtungen.
Liebe Grüße
Christiane
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Die Mitglieder eines mörderischen Mobs haben die Benutzung ihres Hirns eindeutig an andere abgetreten
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Ja. Schlimm.
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Chapeau! Du hast Zen-Weisheit und allfälligen Sarkasmus in einen Dialog gebracht und am Ende im zwar-aber versöhnt. Wolle mancher daraus lernen!
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Danke, danke *freu* Das ist tatsächlich ein wichtiger Teil meiner Lebensphilosophie
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o ha, da hast du ja ein spannendes Programm!
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🙂
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