Schlagwort: Litauen

12. Station der literarischen Weltreise -Litauen

Jurga Ivanauskaité

„Placebo“

Zu dem Buch habe ich ja schon ausführlich geschrieben hier, hier und hier.  

Wie man sieht, ist auch das Cover sehr skurril. „Placebo“ nennt sich übrigens die weltumspannende Verschwörung, die in der Geschichte eine große Rolle spielt. Der Text ist sehr gut geschrieben, hat aber etliche Längen, es wechselt auch häufig die Erzählperspektive zwischen mehreren Figuren.

Die Einblicke in die litauische Gesellschaft waren sehr interessant, wenn ich auch keine Möglichkeit (und Lust) habe zu überprüfen,. inwiefern sie der Realität entsprechen. Als Katzenfreundin habe ich mich über das Ende der Geschichte gefreut: die Katzen retten die Welt!

Und nun begebe ich mich an das andere Ende der Welt mittels eines Romans, der in einer wesentlich kühleren und schnörkselfreien Sprache geschrieben ist.

 

Litauen literarisch – Zitate 3

Das Buch wird zunehmend skurriler und auch politischer. Es gibt eine Art  geheime Weltherrschaft, genannt „die Zentrale“ deren zahlreiche Agenten die Menschen beeinflussen und manipulieren. Einer dieser Agenten erzählt von seinem Arbeitstag:

„Der Tag war wie immer anstrengend, voller zu erledigender Arbeiten. Er rief die zuständige Person an und bat darum, dass der Parapsychologen-Messe im Sportpalast der größtmögliche Rabatt gewährt würde. (…) Sollten die Parapsychos ihre Nichtigkeiten vortragen, stapelweise Bücher über Karmadiagnostik kaufen, mit magischen Kristallen die Zukunft vorhersagen, mit Wünschelruten wedeln und Auren fotografieren. Sollte der frei Wille sich selbst auf den Geist gehen, sich an der Nase herumführen, sich Sand in die Augen streuen und sich in bedrucktes Scheißepapier wickeln. Je mehr für dumm Verkaufte es im Staate gab, desto besser! Jedem Verbraucher sein eigener Weissager! Jedem Politiker sein eigenes Orakel !

Auf der Messe sollten zu diesem Zweck die von der Zentrale hergestellten Orakulatoren verbreitet werden, spezielle Apparate, die den ahnungslosen Anwender glauben ließen, er stünde in direktem Kontakt mit Gott und könne sogar mit ihm plaudern. Die wunderbaren Apparätchen waren in Armbanduhren eingebaut, natürlich nicht in irgendwelche, sondern in solche mit besonderen Zeichnungen auf dem Ziffernblatt: Yin und Yang-Diagrammen, sechszackigen Sternen sowie Buddha und Christus. (…)

Die Zentrale betonte immer wieder, wie wichtig die Flut von Magiern und Mystikern für Litauen sei.(…) Keiner seiner Mitbürger setzte am Morgen auch nur einen Fuß vor die Tür, ohne nachgelesen zu haben, was ihm das Horoskop für heute verkündete, das selbst im allerletzten Käseblatt abgedruckt war (…) Raus mit den klaren Köpfen aus dem Rad der Geschichte, dann dreht sich das Rad leichter. Das Leben hatte an der Oberfläche dahinzugleiten. Weg mit der Tiefe ! p. 116

Zu meinen Lieblingsbüchern in diesem Genre der politischen Utopie gehören die beiden Klassiker „Schöne Neue Welt“ und „1984“ . Sie werden in diesem Buch als wegweisend für die Ideologie der neuen Weltherrscher beschrieben:

„Zur möglichen baldigen Einführung standen auch die von Aldous Huxlex beschriebenen Soma-Tabletten an, die einem jederzeit gute Laune garantierten, Zweifelm, stress, Müdigkeit und Enttäuschung beseitigten und – was am Wichtigsten war – unnötige, ketzerische Gedanken verschwinden ließen, die GEMEINSCHAFTLICHKEIT, EINHEITLICHKEIT, BESTÄNDIGKEIT schaden konnten.In gewissem Sinne wurde die Mission von soma in vielen führenden Staaten schon von Prozac erfüllt.“ p194

 

Litauen literarisch- Zitate 2

Bei Lektüre dieses Absatzes bin ich mir so ignorant vorgekommen wie schon sehr lange nicht mehr. Abgesehen von Solschenizyn, Sacharow und Suzuki …… „Kaunas“ weckt irgendwelche schwachen Assoziationen, aber sonst bin ich völlig blank. Was zum Beispiel ein Samisdat-Foliant oder ein Gediminas-Pfeiler ist ….. Welch unglaubliche Wissenslücken sich da auftun. Dabei ist Litauen ein europäisches Land, in dem ich sogar schon einmal eine Woche verbracht habe.

JURGA IVANAUSKAITÉ

„(…) Sie lasen keinen Solschenizyn und auch keinen Brodsky . Sie konnten sich nicht recht vorstellen, womit sich Sacharow beschäftigte und was mit Thomas Venclova passiert war. Sie vermissten die Mystiker nicht, die in Form von dicken russischsprachigen Samisdat-Folianten in Vilnius kursierten: Alan Watts, Suzuki, Krishnamurti und Sri Aurobindo. Sie hatten nicht die leiseste Ahnung von der Chronik der katholischen Kirche. Sie hatten noch nie von Terleckas, Petlus oder Sadunaité gehört. Auch Vater Stanislovas in Paberzie hatten sie noch nie besucht. Sie dachten nicht daran, den 16.Februar, den Tag der Wiederherstellung der litauischen Unabhängigkeit zu feiern. Sie wussten nicht recht, in welcher Reihenfolge die Farben der verbotenen Nationalflagge angeordnet und was der Vytis oder die Gediminas-Pfeiler waren.Falls sie von einem wie durch ein Wunder auf diese Seite des Eisernen Vorhangs geratenen BBC-Korrespondenten gefragt worden wären, hätten sie ihm keine klare Auskunft über Romas Kalanta oder den genauen Zeitpunkt der sogenannten Ereignisse von Kaunas geben können. Rita und Rimantas waren keine Ausnahme. Damals, vor mehr als zwanzig Jahren, lebten die meisten, ja fast alle so.“ p. 112

Sehr interessant fand ich auch die Beschreibung einer litauischen Jugendzeitschrift aus kommunistischen Zeiten

„Rita dachte wehmütig an die einzige Zeitschrift ihrer zugeknöpften Kindheit, den „Schüler“, an dessen komsomolzische Vorworte, sachliche Interviews mir den Klassenbesten, die Gedichte der angehenden Poeten, die naiven Jugendnovellen, die schwarz-weißen Arbeiten der fleißigen, jungen Graphiker, die Beratung in unschuldigen Fragen, zum Beispiel, ob man einen Freund daran erinnern dürfe, dass er einem noch 80 Kopeken schulde, schließlich die Spalte mit den Brieffreundschaften: mit den Aphorismen-Sammlern, den Briefmarkensammlern, Schauspielerfoto-Sammlern, den Mitgliedern der Volkstanzgruppen“ p.104

Litauen literarisch – Zitate 1

Ich habe beschlossen, meine Lektüren durch herausschreiben von Zitaten ein bissl zu begleiten.

JURGA IVANAUSKAITÉ

„Julija dachte immer noch in Worten und Begriffen, deshalb bemühte sie sich alles noch Unerfahrene und Unbenannte, zumindest für sich selbst, möglichst klar zu definieren. (…) Beim Schreiben hatte sie übrigens gespürt, dass die Worte – besonders die einst sinnreichsten – Gott, Liebe, Hoffnung, Glaube -, sich abnutzten wie zu lange in Umlauf befindliche Münzen, zerknitterten wie alte Banknoten. Alles hat einen Anfang und ein Ende folglich haben auch Begriffe ein Haltbarkeitsdatum.“ p82

„In ihrer Pubertät beschäftigten Julija die erfundenen und hoffnungslos unerreichbaren Geliebten um einiges mehr als die gleich nebenan herumlungernden Subjekte männlichen Geschlechts, die gleichaltrigen Jungen voller Pickel und Komplexe.Wenn einer Julija ins Kino, zum Tanzen, zu einem Date einladen, sie necken oder zum ersten Kuss oder dem Verlust der Unschuld verführen wollte, dann ersann sie Ausreden – sie versicherte, dass ihr Herz schon vergeben sei und sie ihren Geliebten auf keinen Fall verraten könne.

Das wurde zur unverbesserlichen, lebenslangen Gewohnheit. Jedem wirklichen Mann mit leidenschaftlichen Absichten  stellte Julija sofort ein nicht existierendes, aus ihrem Leben verschwundenes oder unerreichbares Individuum gegenüber. Dem neuen Partner erklärte sie mit masochistischer Sturheit immer wieder, dass sie einen anderen nicht vergessen könne – den es wirklich gab oder der erdacht war“ p.89

Julija ist übrigens eine kürzlich verstorbene Wahrsagerin aus Vilnius, die beste Beziehungen zu der neureichen litauischen Elite pflegte.