
Peinlich war es mir, so wenig von Richard Gerstl gehört zu haben. Immerhin der erste österreichische Expressionist, vor Schiele, vor Kokoschka. So nutzte ich die Gelegenheit, eine Gerstl-Ausstellung im Leopold Museum sehen zu können. Eine Gerstl-Ausstellung, wohlgemerkt, nur Gerstl, keine Gefahr und ein hoffentlich harmloser Maler mehr, dessen Bilder ich mir gelegentlich ansehen könnte Vorsichtshalber studierte ich das Bild auf dem Ausstellungsplakat nochmal genau . Es kann nicht dieselbe Wirkung haben wie ein Original, aber es hilft mir doch. Ja, wie erwartet, ich kann es lange ansehen, ja, es ist recht interessant, der Pinselstrich, der Ausdruck, und ich stehe ganz solide, wie andere Leute auch und betrachte ein Bild. Dann kann ich weitergehen zum nächsten Bild, ein Video über den Maler sehen, weitere Bilder sachkundiger betrachten, einen Stopp in der Cafeteria machen, einen Katalog kaufen. Ein völlig normaler Museumsbesuch wie früher.
Schön ist das Leopold-Museum im Wiener Museumsquartier, ein Gebäude, das konzipiert wurde um Kunst auszustellen. Ich bin hier um mir Gerstl anzusehen. Es ist schon sehr gewagt, aber die Ausstellung ist nur in einem Stockwerk. Direkt vom Eingang dorthin und wieder zurück, ohne Umwege.
Panik! Wieso hängt hier ein Munch? Nur schnell vorbei! Gerade noch geschafft. Ich lasse mich im nächsten Saal auf die Bank fallen. Indigniert schaut mich ein junges Paar an, beide mit dem Audio-Guide am Ohr, beide konzentriert lauschend und schauend. Eben Leute, die sich an einem Ausstellungsbesuch erfreuen können. Im nächsten Saal ein Paar Figurendarstellungen von Gerstl, die mir zum Glück überhaupt nichts sagen, ein paar Landschaftsbilder vom Traunsee, die mir recht gut gefallen. Aber der Munch hat mich erschreckt, eines von den Vampirbildern. Besser wird es sein, ich gehe jetzt. Nicht nur einen Munch habe ich gesehen auch Werke von anderen Malern. Warum habe ich nur nicht daran gedacht, dass es im Kunstbetrieb gerade üblich ist, möglichst viele Referenzwerke zu dem eigentlichen Ausstellungsthema dazuzuhängen. Hoffentlich komme ich hier gut hinaus. Mein Gott, Expressionismus!
Ich visiere den nächsten Saal an. Zurückgehen hat jetzt keinen Sinn mehr, ich weiß ja wo der Munch hängt. Also in die andere Richtung. Durch den Torbogen sehe ich, dass im nächsten Saal Portraits hängen. Wahrscheinlich von Gerstl. So gut kenne ich ihn nicht, dass ich das von weitem sehen könnte. Portraits, keine Figuren, keine Akte, vielleicht schaffe ich es. Ich beschließe ganz schnell und zielgerichtet durch den Saal durchzugehen, auf der anderen Seite hinaus, dort ist die Garderobe. Gerettet wäre ich für heute. Ich gehe also geradeaus, schaue nicht rechts noch links, nur den Ausgang im Blick. Nur ein paar Schritte stur geradeaus. Dann kommt mir jemand entgegen, der auch nur einen Punkt irgendwo hinter mir anvisiert hat, wir stoßen zusammen, durch den Schwung drehe ich mich gegen die Wand neben dem Eingang, die ich von draußen nicht sehen konnte und dort hängt Egon Schiele „Selbstbildnis mit hochgezogener nackter Schulter“ 1912.

Ein Schiele und ich stehe direkt davor, und er zieht und zieht und es ist zu spät …
Er hat ein Bein über mich gelegt und schläft auf dem Bauch. Ich versuche unter ihm herauszukommen. „Egon“ rufe ich „Egon“. Der Morgen graut und womöglich ist es ein Morgen im Jahr 1918 und die spanische Grippe greift schon nach uns. Bin ich diesmal Wally Neuziel oder Edith Schiele oder eine ganz andere? Was passiert, wenn ich hier sterbe? Edith Schiele war schwanger und starb ein paar Tage vor ihrem Mann. Und Wally Neuziel? Ich weiß es nicht. Das hätte ich doch vorsichtshalber herausfinden können bevor ich mich ins Leopold-Museum gewagt habe. Hier hängt die weltweit größte Schiele-Sammlung. Was für ein Wahnsinn, hierher zu kommen. Nach allem. Was für ein Wahnsinn !
Im Hintergrund höre ich das Martinshorn einer Ambulanz. Haben die damals schon genauso geklungen? Jemand packt mich an den Schultern und zieht mich hoch. Aber wohin? Es ist nicht Egon. Egon sieht seltsam durchscheinend und unwirklich aus, schläft immer noch und hält mich fest, so dass ich mich nicht bewegen kann.
„Wie geht es Ihnen? fragt jemand. Kann das Egon sein? Nein, der hat sich nicht bewegt und würde doch auch nicht „Sie“ sagen, oder? „Können Sie mich hören?“ „Natürlich“ will ich sagen, aber es geht nicht. Das Bild mit der hochgezogenen Schulter sehe ich auch. Warum der Egon es nicht in seinem Atelier hängen hat? Komisch. Vielleicht ist es gerade fertig geworden und er wollte es mir zeigen. Dann wären wir 1912 und es blieben mir sechs Jahre um mich von hier zu befreien. Dann wäre ich doch die Wally, mit der er bis 1915 gelebt hat? Und was ist dann mit mir passiert, während des Kriegs und später während der Grippeepidemie?
Was ist jetzt los, wer sind denn diese Leute? Wieso sind sie alle hier in unserem Schlafzimmer und greifen mich an? „Egon“ rufe ich „Egon, so wach doch auf!“ Ich sehe ihn kaum noch.
Wie komme ich nur aus diesem Museum, dieser Zeit, diesem Leben hinaus?
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