
Mit dem Tag X hatte niemand gerechnet. Gar niemand. Alle Katastrophen, die die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte heimgesucht hatten, auch jene, die sie selbst verursacht hatte, wurden in irgendeiner Weise von irgend jemandem vorhergesagt. Naturkatastrophen wie Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überflutungen, das Ozonloch und der Treibhauseffekt, Kometeneinschläge und Tsunamis. Explosionen in Atomkraftwerken ebenso wie das Schmelzen von Polareis und Tundraböden, Covid 19 und der Verlust der Kontrolle über die KI. Alles, nur nicht das, was dann am Tag X geschah.
Ich stand vor dem Haus und wartete auf die Kinder, die wie immer herumtrödelten, wenn ich sie in die Schule bringen würde, statt dass sie mit dem Bus fuhren. Die Katze saß dekorativ auf dem Gartentisch und beobachtete aus den Augenwinkeln irgendetwas, das sich in der Hecke bewegte und plötzlich… Plötzlich war der Himmel orange, die Sonne lila und das Gras rot. „Gegenfarben“ schoss es mir noch durch den Kopf, dann weiß ich nur noch, dass ich im Vorraum stand und die Kinder festhielt, die sehr verschreckt waren aber Gott sei Dank so aussahen wie immer.
Auch die Katze, die in Richtung Hecke vorbeischoss war immer noch weiß und getigert. Aber die Hecke war rot, der Himmel orange und die Wolken bunt.
Hektisch packte ich meinen Laptop aus und hoffte mit aller Inbrunst, dass er funktionieren würde. Die Verbindung war denkbar schlecht, aber ich konnte herausfinden, dass das Farb-Phänomen inzwischen die ganze Welt erfasst hatte. Begonnen hatte es auf der Insel Tuvalu im Pazifik, die nur noch zu einem Drittel ihrer ursprünglichen Fläche aus dem Wasser ragte. Man sah Bilder vom orange-bunten Pazifik und den roten Palmen. Alles, was es sonst zu erfahren gab, waren fassungslose Kommentare von Menschen, die nicht mehr wussten als ich.
Die Farben hatten sich verändert, nicht bei Menschen und Tieren, aber in der gesamten Natur, bei allen Pflanzen. Zuerst war die Erleichterung groß, besonders naturferne Menschen freuten sich sogar darüber, dass es wie sie sagten „etwas Abwechslung gab“. Die sozialen Netzwerke quollen über vor Selfies mit lila Sonne und orangem Himmel, innerhalb von wenigen Stunden wurde eine neue weltweite Selfie-Trendposition entwickelt. Die Menschheit verzettelte sich im Selbstdarstellungswahn.
Ein paar weitere Stunden dauerte es, bis die Tragweite des Ereignisses klar wurde. Die Tiere fraßen die roten Pflanzen nicht. Einige wenige Weidetiere deren Ahnenreihen irgendwo unterwegs sämtliche Instinkte verloren gegangen waren, rupften weiter Gras und Kräuter. Doch kaum waren die roten Pflanzen in ihren Mägen angekommen, brach dort der Stoffwechsel zusammen, sendeten die Nerven nur noch unverständliches. Die Tiere torkelten und brachen zusammen.
Zu diesem Zeitpunkt begann der Ansturm auf die Supermärkte. Dosen, Tiefgekühltes, alles Essbare und Haltbare rissen die Menschen an sich. Es kam zu Kämpfen in den Märkten und auf den Parkplätzen. Die Straßen waren nicht mehr sicher. Die Besitzer kleiner Lebensmittelgeschäfte konnten sich oft nicht entscheiden, ob sie die Umsätze ihres Lebens machen oder doch lieber zusperren und die Waren für sich behalten sollten. Sehr oft überlegten sie zu lange und ehe sie dann noch reagieren konnten, war das Geschäftslokal geplündert und es blieben ihnen weder Geld noch Nahrungsmittel.
In den nächsten Tagen und Wochen wurde zumindest die Situation klar: alle Pflanzen hatten nicht nur ihre Farbe verändert sondern waren nun für Mensch und Tier giftig. Die Veränderung betraf sämtliche Pflanzen in allen Klimazonen. Die Pilze, auf die man einige Hoffnungen gesetzt hatte, weil sie weder zu den Tieren noch zu den Pflanzen gezählt wurden, waren nicht so leuchtend rot wie das Getreide, aber doch rot und Versuche ergaben, dass sie ebenfalls giftig waren.
Nach den ersten Tagen der wilden Plünderungen versuchten die Regierungen, die NGOs und andere Vereine die verbleibenden Lebensmittel einigermaßen gerecht zu verteilen. Man versuchte, alle überlebenden Tiere zu schlachten bevor sie Pflanzen fraßen. Fleischfressende Tiere befanden sich in der gleichen Lage wie die Menschen.
Ich sperrte unsere Katze ein damit sie nicht an die vergifteten Mäuse und Vögel herankam. Aber was hatte ich ihr zu bieten, außer sparsame Rationen aus Katzenfutterdosen, die nicht unbegrenzt waren. Was hatten meine Kinder, ich selbst und mein Mann zu erwarten, wenn die Vorräte zu Ende gingen oder Plünderer unser Haus verwüsteten.
Das einzige, was sich nicht veränderte waren die sozialen Medien. Unendliche Prahlereien, Selfies in allen Variationen, ja, es gab auch Kannibalismus, sehr bald sogar, denn die Vorräte der Menschheit gingen zu Ende, die Verwaltungsstrukturen brachen zusammen. Dass ohne Pflanzen ein Nahrungskreislauf nicht möglich war, verstanden bald auch die Verbohrtesten.
Die neuen Farben veränderten sich nicht mehr, der Himmel blieb orange, die Sonne lila und alle Pflanzen rot, aber es gab doch noch eine zweite Veränderung, die die noch vorhandenen Lebensmittel betraf. Das meiste davon wurde irgendwo gehortet. Anfangs gab es einen florierenden Schwarzmarkt, doch die Erkenntnis, dass nichts von dem, was man mit dem verdienten Geld kaufen konnte, langfristig das Überleben sichern würde, hatte das Angebot auf den Schwarzmärkten praktisch auf Null reduziert.
Ich war mit meiner Familie auf den Bauernhof der Schwiegereltern geflüchtet. Der Hof war entlegen und sie betrieben eine Käserei. Die Schafe hatten das giftige Gras verweigert und so gab es auf dem Hof große Vorräte an Schaffleisch und Käse. Zusammen mit den Vorräten, die wir mitgebracht hatten, konnten die Lebensmittel für einige Monate reichen. Bis dahin gab es vielleicht eine Änderung, eine Lösung.
Ich saß in dem Raum, in dem der Hartkäse gelagert wurde. Der Anblick des Käses beruhigte mich. Ich machte Berechnungen, versuchte festzustellen wie lange wir alle noch durchhalten würden, ob es sich lohnte überhaupt zu versuchen durchzuhalten.
Die Welt hatte sich grundlegend verändert, aber die Natur war schön wie eh und je nur in anderen Farben und sie war giftig geworden. Wir dachten gar nicht darüber nach, warum die Veränderungen das Wasser nicht betrafen. Süßwasser hatte weder die Farbe verändert noch war es giftig geworden. Wir hatten zu trinken und wir konnten baden.
An diesem Tag zählte ich gerade den Hartkäse. Ich war wohl müde, denn vor meinen Augen begann es zu flimmern. Die Luft flimmerte und schien alle Farben durcheinander zu wirbeln, dann bündelten sich die verschiedenen Farbtöne und verschwanden. Verschwanden einfach. Zurück blieb alles, was vorher in diesem Raum gewesen war in bleichen, transparenten Schwarz-Weiß-Tönen.
Meine Hände zitterten, aber sie waren noch aus fester Materie, fleischfarben und lebendig. Die Regale, die Tische und auch der Käse dagegen begannen sich nun völlig zu entfärben, sie wurden transparent, noch eine Weile konnte man so etwas wie Nachbilder erkennen, dann war der Raum in dem sich vorher Käse, Holz und Metall befunden hatten einfach leer. Ich konnte die Leere sehen und tasten. Da war nichts mehr.
Phase 2 war damit abgeschlossen.
War es irgendjemandem ein Trost, dass das Internet bis zuletzt funktionierte und so die Entwicklungen weltweit hautnah zu verfolgen waren?