Elisabeth saß auf der Parkbank neben Erich. Es war Erichs Bank. Hier verbrachte er den Tag, hier sortierte er gerne seine Besitztümer in verschiedene Behälter und Tragtaschen, im Sommer schlief er hier auch manchmal. Die Lage fand er ideal: im vorderen Bereich eines Parks, neben einem Eingang zur U-Bahn für die ganz kalten Tage und gegenüber ein Supermarkt mit großen Containern in denen täglich eine Überfülle an Esswaren landete. Die Angestellten ließen die Tore zum Müllplatz manchmal unversperrt, aber darauf war Erich nicht angewiesen. Er hatte es über viele Wege und Windungen aus seinem alten Leben zu einem Schlüssel zu dem üppigen Müllplatz gebracht. Eigentlich war er das, was man in der Leistungsgesellschaft einen tüchtigen Menschen nannte. Er schöpfte die begrenzten Möglichkeiten seiner aktuellen Lage voll aus.
Die junge Frau, die uneingeladen aufgetaucht war, kannte er schon seit ein paar Monaten. Als sie sich das erste Mal auf seine Bank setzte, wollte er grob werden und seine Besitzansprüche ganz deutlich machen, aber sie schlotterte vor Kälte und war nicht in der Lage weiterzugehen. Seltsam sah sie aus für einen Platz auf dieser Parkbank. Seltsam war auch, dass ihr Schüttelfrost langsam aufhörte, dass sie nach einer Weile sogar ihre Jacke auszog, den langen Schal über die Lehne der Bank hängte. Die Handschuhe landeten in ihrer Tasche und sie schaute sich um.
In der näheren Umgebung war Erich nicht der einzige Parkbankbewohner. Etwas weiter hinten hatten Marianne und Oskar zwei Bänke nahe nebeneinander geschoben und ihren Einkaufswagen aus dem Supermarkt dazwischen geparkt. An manchen Tagen wurden die Bänke von einem Parkaufseher oder sonst jemandem wieder auseinandergestellt. Es blieb nicht lange so.
Mit etwas gutem Willen und großzügiger Auslegung des Begriffs konnte man Marianne und Oskar als Paar bezeichnen. Beide waren sie auf ihre Art verschroben und eigenbrötlerisch und kamen selten mit jemandem länger aus. In ihrer Beziehung zueinander machten sie da gelegentlich eine Ausnahme. Wenn sie auch nicht gerade ein harmonisches Paar waren, so fanden sie doch immer wieder zusammen und es gab auch Tage an denen sie gemeinsam Erich besuchten und zu dritt die nächtlichen Erwerbungen aus den Supermarktcontainern genossen. So viel sozialer Umgang reichte ihnen dann aber für eine Weile und oft zogen sie dann auch getrennt durch andere Bezirke.
Elisabeth erinnerte sich gut an diesen ersten Tag auf der Parkbank. Sie brauchte eine Weile bis sie Erichs unfreundliche Blicke bemerkte. Die Kälte hatte sie völlig eingeschlossen, von der Welt isoliert. Ihre Knochen und Gelenke fühlten sich an wie vereist und nahe am Splittern. Sie hatte so stark gezittert, dass sie sich kaum noch in der Lage gefühlt hatte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, nicht einmal für die wenigen Schritte, die vor ihr lagen. So fiel sie auf die Parkbank und klammerte sich an die Lehne in der Hoffnung das Zittern dadurch etwas einzudämmen. Und wirklich wurde ihr nach einer Weile langsam immer wärmer, eine Energiewelle durchflutete ihren Körper, ihre Temperatur stieg an, Muskeln und Sehnen wurden wieder geschmeidiger. Sie begann sich umzusehen. Und nach einer Weile hatte sie sich so gut aufgewärmt, dass sie weitergehen konnte.
Zum ersten Mal seit langer Zeit erschien ihr der Marmorboden ihrer Eingangshalle nicht als unendliche, kalte Fläche, die sie wie eine Polarforscherin mit letzter Kraft durchqueren musste. Sie sah wieder die feine rosa-graue Marmorierung im weißen Stein und die schönen Proportionen des Raums, der Schwung des Jugendstil-Geländers der Treppe in den ersten Stock fiel ihr auf und die Schattenmuster an den Wänden der Galerie. Sie war zuhause und es war ihr nicht kalt.
Doch nach ein paar Tagen war alles wie vorher, die Kälte hatte sie wieder eingeholt. Der Schüttelfrost kam immer wieder, unter mehreren Daunendecken und mehreren Schichten von Bekleidung bei 25 Grad im Raum fror sie auch nachts erbärmlich.
Bei den zahlreichen Untersuchungen, die sie in den letzten Wochen absolviert hatte, konnte nichts weiter festgestellt werden als eine starke Untertemperatur, deren Ursache nicht geklärt werden konnte. Die Kälte war schlimm, noch schlimmer war, dass ihre Beziehungen und Kontakte zu anderen Menschen immer weniger wurden, dass die Kälte sie in jeder Hinsicht isolierte.
Auf ihrem Weg von der Privatklinik, auf die sie so große Hoffnungen gesetzt hatte, bis zum Parkplatz wo ihr Auto mit oder ohne Chauffeur auf sie wartete, musste sie den Park mit Erichs Bank durchqueren. Mehrmals schon hatte sie sich zu ihm gesetzt und jedes Mal trat der unerklärliche Erwärmungseffekt ein, der dann ein paar Tage andauerte. War die Erwärmung auf die Klinik zurückzuführen? Das konnte nicht sein, denn dort wurden nur Untersuchungen durchgeführt. Zufälle, deren Ursache nicht ergründet werden konnten? Zyklische Vorgänge im Organismus? Oder vielleicht doch der Park, die Bank, der Obdachlose? War es aber der Ort, oder die konkrete Person, oder jeder Obdachlose?
Elisabeth suchte verzweifelt nach Lösungen. Die Medizin hatte ihr nichts zu bieten, so wendete sie sich der Psychologie zu und konsultierte mehrere Größen auf diesem Gebiet. „Überschießende Psychosomatik“, „extreme Empathie“. Diese Diagnosen halfen ihr nicht weiter. Das Angebot eines Psychoanalytikers in Therapiesitzungen zwei- oder dreimal die Woche ihre Kindheit zu durchforsten, lehnte sie ab. Sie brauchte schnellere Lösungen.
Als junger Erbin eines sehr beträchtlichen Vermögens, die obendrein gerade ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen hatte, boten sich ihr ebenso weit gefächerte wie interessante Einstiegsmöglichkeiten ins Berufsleben. Theoretisch zumindest. Als ständig vor Kälte zitternder junger Frau, die darauf angewiesen war in regelmäßigen Abständen, ja, was eigentlich zu tun, um ihre Körpertemperatur zu halten, boten sich ihr nur sehr wenige Möglichkeiten und keine davon gefiel ihr.
Monatelang besuchte Elisabeth Erich regelmäßig. Er war einer der ganz wenigen Menschen, die sie noch regelmäßig sah. Die Kälte und die Verzweiflung lähmten sie lange, aber Elisabeth war eine strukturierte, systematisch vorgehende Frau und als ihre Lebensgeister zurückkehrten, begann sie in der ganzen Stadt nach Obdachlosen zu suchen und Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Sie hörte viele Lebensgeschichten, musste aber auch feststellen, dass keiner der vielen Menschen, die sie mehr oder weniger kennenlernte die gleiche starke Wirkung auf sie hatte wie Erich. Aber die Wirkung war kumulativ, hatte sie eine kleine Gruppe von Obdachlosen um sich, so wurde ihr ebenso warm wie wenn sie eine Stunde bei Erich war.
Ihre Erleichterung war unendlich. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was hätte sein können, wenn nur Erich zwischen ihr und der Kälte gestanden wäre.
Das Gebäude, das Elisabeth sorgfältig ausgesucht hatte, war völlig renoviert worden. Es verfügte über Schlafplätze, Sanitäranlagen, eine Küche mit Speisesaal, Aufenthaltsräume und ein Lager für Bekleidung. Mehrere Angestellte kümmerten sich um die Organisation dieses neuen Obdachlosenheims und seine Besitzerin und Geschäftsführerin Elisabeth kam, ebenso wie viele Obdachlose, regelmäßig vorbei um sich zu wärmen.