José, das Meer und die Oberflächlichkeit – Impulswerkstatt

So weit er zurückdenken konnte, hatte José sich als anders empfunden. So weit er zurückdenken konnte, interessierten ihn nur selten die Dinge mit denen sich Gleichaltrige beschäftigten, praktisch nie interessierten sich seine Altersgenossen für das, was ihn fesselte und begeisterte. Während seiner gesamten Schulzeit war das Anderssein seine Normalität. Er wurde jedoch von seinen Schulkollegen nicht zum Gespött gemacht, denn er hatte eine freundliche, offene Art und seine Umgebung empfand ihn als seltsam, aber nett und integrierte ihn.

Auch seine Familie nahm ihn so wie er war. Nicht zuletzt deswegen, weil die weitere Verwandtschaft schon einige exotische Blumen wie sie sie nannten, hervorgebracht hatte. Onkel Andrés zum Beispiel war Numismatiker und verbrachte sein Leben so gut wie ausschließlich mit dem Ausgraben und Bestimmen von alten Münzen. Er war dabei so herausragend kompetent, dass er von ausreichend vielen Personen und Institutionen konsultiert wurde um davon recht gut leben zu können.
Oder Tante Susana, die wieder in ganz anderer Weise exzentrisch war. Auch vor ihrer Zeit als anerkannte Fadosängerin , trug sie immer nur schwarze Kleider und Umhänge. Die Mimik einer klassischen Fadista, tragisch, vom Leben enttäuscht, in saudade, der Sehnsucht nach der Vergangenheit schwelgend hatte sich im Laufe der Jahre untilgbar in ihr Gesicht eingeprägt. Während Onkel Andrés von Ausgrabungen in abgelegenen Gegenden zu berichten wusste, unterhielt Tante Susana sich gerne und auch ziemlich ausschließlich über Fado: Musik, Interpreten, Texte, Lokale, in denen gesungen wurde.

Warum sollte in dieser Familie ein Kind besonders auffallen, das die Nacht einer Vollmondflut auf einem halb überfluteten Felsen verbrachte um zu erfahren, wie hoch das Wasser maximal stieg und wie man sich als Schiffbrüchiger wohl fühlen mochte, das darüber nachdachte, warum die Farbe rot Gefahr signalisierte und das die Experimente von Archimedes und Newton nachvollziehen wollte?

José war ein umgänglicher Exzentriker und wollte sich nicht allem entziehen, was ihn selbst zwar langweilte, aber eben zum allgemeinen Leben dazugehörte. Um auf Partys nicht allzusehr aufzufallen, beschloss er – wie andere Leute eine Fremdsprache – small-talk zu lernen. Er empfand das inhaltslose Geschwätz zwar als Zeitverschwendung meinte aber, dass es doch seine Kontakte zum anderen Geschlecht fördern würde. Er lebte in einem Land, in dem oft und mit Hingabe gefeiert wurde und so wurde er zwar nicht zum Party-Löwen, erwarb aber recht schnell eine gewisse Geschmeidigkeit für inhaltsleere aber freundliche Unterhaltungen.

Große Hoffnungen setzte José auf die Geburtsparty eines Cousins, von dem er wusste, dass er jede Menge Frauen einladen würde. Er hatte schon so viel small-talk trainiert, dass er sich als absolut sattelfest empfand und geradezu hemmungslos plauderte, mit jedem und jeder, die er in ein Gespräch verwickeln konnte. Eine anwesende Frau gefiel ihm ganz besonders. Er hatte sie aber nach einem kurzen Gespräch wieder aus den Augen verloren. Als er auf der Suche nach ihr durch den großen Garten des Cousins schlenderte, sah und hörte er sie mit einer Freundin sprechen. So laut, dass er es unmöglich überhören konnte. „José heißt er. Aha. Schon lange ist mir kein so oberflächlicher Typ untergekommen. Zum sofort Davonrennen.“ sagte sie

Jetzt saß er am Meer, fütterte die Möwen und dachte über Anpassungen nach. Was für seltsame Auswüchse die Evolution hervorgebracht hatte damit Männchen den Weibchen gefallen sollten: schwere Geweihe, überlange Pfauenfedern, die Kunstwerke der Laubenvögel. Auch ein paar passende soziologische Theorien zum Thema fielen ihm ein und er beschloss den small-talk wieder aufzugeben.

36 Gedanken zu “José, das Meer und die Oberflächlichkeit – Impulswerkstatt

      1. Naja, mitunter kommt überleben heraus beim Verbiegen, aber im Grunde ist es mehrheitlich freilich richtig. …. Im ersten Fall ist es eine anstrengende Aufgabe, sich wieder zu finden. Anstrengend, langwierig und schmerzhaft, aber überaus lohnend. …. Danke für den feinen Text.
        Herzliche Grüße
        „Benita“

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  1. Klasse, was dieses Bild alles aus dir raussprudeln lässt!
    Ich habe deine Geschichte sehr gerne gelesen!
    Und immer wieder stellt sich die Frage, wie weit man sich an die gesellschaftlichen Bedingungen anpasst oder seiner eigenen inneren Stimme folgt. Wir balanzieren wohl alle auf diesem Seil. Anders , besonders sind wir ja mehr oder weniger alle (zumindestens „gedacht, geplant, gemacht“)

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  2. Ja, die Geschichte ist mir wohl über mehrere Ecken eingefallen 🙂
    Wahrscheinlich machen wir alle Kompromisse, aber man muss aufpassen, sich nicht zu sehr zu verbiegen. Es wird auch ein paar Menschen geben, die von Natur aus so sind, dass sie sich in ihrer gesellschaftlichen Umgebung absolut wohlfühlen …

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  3. eine berührende Geschichte in der ich mich selbst gespiegelt sah. Im Gegensatz zu mir ist José aber ein echtes Fremdsprachentalent. Er muss jetzt nur noch lernen, sein Talent etwas dosierter und wacher einzusetzen. Dann steht dem Erfolg nichts mehr im Wege. Und dann findet er auch ein passendes Gegenstück. Auf gutem Weg scheint er zu sein, wenn man sich ansieht für wen er sich interessierte.

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  4. Ja, klar, ein Missverständnis, aber auch Missverständnisse haben Ursachen, über die man nachdenken sollte. Erst mal er, und dann vielleicht auch sie, sollten beide einander erneut über den Weg laufen … 🤔😉
    Gerne gelesen, danke 😁👍
    Mittagskaffeegrüße 😁🌦️☕🥨👍

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    1. Ja, vielleicht sollten sie unter anderen Bedingungen begegnen… Ich freu mich, dass die Geschichten wieder sprudeln. Man weiß eh nie, wie lange.
      Langsam festigt sich bei mir der Eindruck, dass du ununterbrochen Kaffee trinkst 🙂
      herzliche Grüße

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      1. Kaffee: Nein. Aber wesentlich häufiger als Tee. Eigentlich bedeutet es, dass ich arbeite und gerade Pause mache.
        Ich trinke auch nicht jeden Abend Wein, falls dir das ebenfalls aufgefallen ist 😁🌦️☕🥨👍

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  5. Wahrscheinlich sollte José seine Taktik ändern. Der Prinz von Zamunda war ja auch ziemlich lange erfolglos auf der Lauer, bis ihm der Friseur gesagt hat, dass man beim Gottesdienst nette Frauen treffen kann.

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    1. Ja, sich wirklich nicht zu verbiegen und nur Unterhaltungen zu führen, die einen aus irgendwelchen Gründen interessieren oder berühren … Das wäre schon was. 100%ig wird das nie möglich sein, aber den Prozentsatz zu steigern, ist schon was

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      1. Absolut – da hast du recht 🙂
        Manchmal sind „leere“ Unterhaltungen sicher nicht unwichtig – ABER wenn es nur noch darum geht, ist es nicht vergeudete Lebenszeit?

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