Beängstigend

Meine türkischstämmigen Abendschülerinnen verschaffen mir immer wieder Einblicke in diese Parallelgesellschaft.

Bei Hochzeiten gibt es den Brauch des Jungfrauengürtels, der symbolisiert, dass die Braut „rein“ ist. Die Mädel sind ganz besessen von der Jungfräulichkeit. Bei den (jungen) Männern wird aber – so sagten sie – toleriert, dass sie voreheliche sexuelle Erfahrungen haben. Mit wem haben sie die aber, wohl nicht mit den jungfräulichen Bräuten sondern mit dafür benutzten nicht-islamischen Mädchen, die dann verachtet werden ….

Eins von den Mädeln erzählt, ihre Großmutter hätte mit 14 das erste von 11 Kindern bekommen. „Sie musste zweimal heiraten“ (O-Ton), weil sie mit dem ersten Mann, der wesentlich älter war zwangsverheiratet wurde. Er starb und sie hatte sechs Kinder und kein Auskommen. Ob man denn unbedingt heiraten müsse, frage ich. Ja, natürlich, nicht heiraten geht gar nicht. Andererseits verbringen diese jungen Frauen ihre Freizeit in einer Abendschule. Leider in fast allen Fällen ohne jeden Erfolg. Wobei die Erfolgsrate der Frauen immer noch besser ist als jene der Männer.

Man muss berücksichtigen, dass alle diese Mädchen aus materiell armen, ungebildeten, in ländlichen Gebieten lebenden Familien kommen, deren Leben sicher anders aussieht als jenes der türkischen Mittelschicht zB in Istanbul. Trotzdem … Man muss sich nur die Statistiken ansehen: die Integration der türkischen „Gastarbeiter“ und deren Kindern ist abgesehen von einigen Ausnahmen insgesamt ein absoluter Mißerfolg.

32 Gedanken zu “Beängstigend

  1. Mir fällt dazu ein, dass das vor noch nicht allzu langer Zeit mehr oder weniger auch in Deutschland noch üblich war. Zwangsheiraten gab es sicher nicht, aber den absoluten Zwang zu heiraten. Ich habe auch Tanten in der Familie, die wieder heiraten mussten, weil sie alleine mit den Kindern des ersten Mannes nicht durchkamen. Selbst meine Cousine hatte in dem kleinen Kaff, aus dem ich stamme, Stress nach der Scheidung, einen neuen Partner zu finden. Und ich gelte als Lesbe, weil ich nicht verheiratet, und auch noch (verdächtig genug) nach Kreuzberg gezogen bin. Was natürlich nicht heißt, dass wir den jungen türkischen Frauen nicht unbedingt von Alternativen erzählen müssen – jungen türkischen Männern erst recht.

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    1. Interessant! Aber es gibt schon noch den Unterschied, dass du wohl auch im winzigsten Kaff nicht gleich von der Familie verst0ßen wirst, wenn du nicht heiraten willst, oder zumindest nicht den von der Familie ausgesuchten Mann. Und wenn du als Lesbe giltst oder auch bist, so kannst du damit doch gut leben …

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      1. Man wird nicht verstoßen, aber hinter dem Rücken wird geredet. Damit kann man leben, aber nicht gut. Einer Frau wird auf diese Weise nachgesagt, dass sie nicht „normal“ ist, oder es nicht schafft im Leben. Das ist eine schlimme Form von Diskriminierung, auch wenn die Frau nicht gleich gesteinigt wird. Ich fühle mich als „Lesbe“ auch nicht wohl, weil es im Provinzjargon heißt lesbisch = pervers. Und weil es sich um ein Vorurteil handelt, da hat ja nicht eine/r mal gefragt. Selbst meine Eltern haben diese Lesart irgendwann aufgegriffen. Nein, damit kann ich wirklich nicht gut leben.

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        1. Das verstehe ich, es ist immer schwer aus Systemen auszubrechen. Ob es nun ärger ist mit den angeblichen Verfehlungen offen konfrontiert zu werden oder hinter dem Rücken schief angeschaut zu werden, wage ich nicht zu entscheiden …

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  2. Sexualneid und Fortpflanzung sind seit Urzeiten bis heute weltweit die größten Hindernisse, um sich miteinander zu vertragen. Mann will, dass sein Same überlebt – dass er sich „fortpflanzt“. Vermischung mit anderen Fortpflanzern wird nicht geduldet. In traditionellen Gesellschaften ist dieser Instinkt ungebrochen, daher der Tick mit der Jungfräulichkeit. Auch den sogenannten religiösen Differenzen liegt das Prinzip der Auslese über Fortpflanzungsorgane zugrunde (ein Moslem hüte sich, eine Christin zu ehelichen etc). Im Deutschen hatten wir das Ding mit der arischen Großmutter – dahinter steckte im Prinzip dasselbe Motiv, nur nicht individuell, sondern rassemäßig definiert. Frau durfte Kinder von verschiedenen Männern bekommen, solange das Ergebnis rassisch einwandfrei war. Sonst war die Frau eine Hure (… das Schild um ihren Hals: „ich lass mich nur mit Juden ein“) und das Kind war ein Bastard,
    Ähnlich: Französinnen, die sich mit Deutschen „eingelassen“ hatten, wurden kahlgeschoren und an den Pranger gestellt, misshandelt, bespuckt. Türkinnen, die sich mit Deutschen einlassen, sind „Huren“, die Mann jederzeit benutzen darf.

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      1. Ich meinte auch vornehmlich die ersten Kommentare, die keinerlei Differenzierung erkennen ließen.

        Meine Erfahrung: viele der türkischen Eltern waren der irrigen Auffassung, ihre Kinder (meine Generation) würden in der Hauptschule eine hinreichende Schulbildung erfahren und könnten dann mit harter Arbeit was werden, so wie die Eltern selbst. Die Kinder standen im Zwiespalt zwischen dem Wertesystem der Eltern und ihren eigenen Erfahrungen. Einige haben sich durchsetzen können, haben studiert – ich habe jahrelang morgens im Zug eine angehende Lehrerin getroffen, Türkin türkischer Eltern -, viele nicht. Die sind dann in die Hoffnungslosigkeit abgerutscht und ihre Kinder haben angesichts der mangelnden Einbindung in die deutsche Gesellschaft die Rückbindung in die Türkei gesucht, mit allem, was uns dort als rückständig erscheint. Mit dem Ergebnis, daß die jungen Türken heute oft fremder im Land wirken als ihre Elterngeneration.
        Aber auch das ist kein Automatismus. Und vor allem kann und darf man nicht behaupten, „die Türken“ wären oder täten so und so. Das ist eine Verallgemeinerung, die in die weitere Definition von Rassismus fällt. Und wie wir ja wissen, sind Pauschalurteile immer falsch. 😉

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        1. Du beschreibst das sehr gut. Natürlich ist es kein Automatismus und ich gebe dir auch recht damit, dass „die Türken sind so und so“ nicht korrekt ist. Habe ich im übrigen auch nicht geschrieben.

          Es geht um eine Lebenssituation, die für einen erschreckend hohen Prozentsatz junger Leute mit türkischen Wurzeln zutrifft. In Österreich noch mehr als in Deutschland.

          Meine Aussage ist auch nur, dass ich persönlich die Einblicke in die türkische Gesellschaft in Österreich aus verschiedenen Gründen beängstigend finde…

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          1. Wie gesagt: „die Türken“ als Pauschalaussage stehen in den ersten Kommentaren, nicht im Blogtext.
            Und auch wenn ich die Phobie der Franzosen gegen alles, was sie „communautarisme“ nennen, ziemlich lächerlich finde: wenn sich Parallelgesellschaften bilden, ist das oft eine Art geistiges Ghetto. Und das ist ein Problem fürs Zusammenleben. In Frankreich betrifft es nicht die Türken – die gibt es hier ja kaum -, sondern die Afrikaner und speziell die Nordafrikaner. Mit einer ganz ähnlichen Entwicklung wie bei den deutschen Türken, und dazu noch den zu räumlichen Ghettos gewordenen Vorstädten von Paris, Lyon, Marseille, bestimmten Vierteln anderer Großstädte. Wo sich als Folge von Jahrzehnten verschlafener Politik die Hoffnungslosigkeit breit macht wie Bodennebel. In Clichy, La Courneuve, Saint Denis. Und da wird der Boden bereitet für Aufruhrgedanken. Nazidenken oder anderer Identitarismus einerseits, Anarcho andererseits, da’esch beim dritten. Weil man ohne Revolution da nicht mehr rauskommt, so sieht es aus.
            Ein ganz heikles – und hoch wichtiges Thema.

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            1. Die banlieux sind ein sehr großes Problem, das möglicherweise aus einer verfehlten Raumplanungspolitik entstanden ist, aber so genau kann man es wohl nicht sagen. Wer weiß, wie sich die Lage anders entwickelt hätte.

              Was Frankreich betrifft, so schwanke ich immer hin und her, ob ich den unbedingten Laizismus in den Schulen ganz großartig oder doch nicht so großartig finde ….. Es ist ja nicht immer so einfach sich mit sich selbst zu einigen 🙂

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              1. Diesen Laizismus gibt es in zwei Ländern der Welt: in Frankreich und in der Türkei. Zwei Demokratien, die ständig Gefahr laufen, den totalen Staat zu schaffen… Und die, anders als Deutschland, mit den Religionsgemeinschaften im Land auf Kriegsfuß stehen… Es geht ja nicht nur um die Schulen. Eine Nonne in Habit kann nicht wählen gehen, weil sie öffentliche Gebäude – wie Schulen und Bibliotheken, wo Wahllokale üblicherweise eingerichtet sind – mit „ostentativen Religionssymbolen“ nicht betreten darf. Gleiches gilt für Kippah-tragende Juden.

                In den Schulen wird von den Kindern erwartet, einen Teil ihrer Identität vor der Tür zu lassen. Freilich nur, wenn ihre Religion nicht Atheismus heißt. Welche psychischen Auswirkungen das hat, möchte ich lieber gar nicht wissen…

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                1. Hm, die Sache mit den Wahllokalen ist natürlich ein Auswuchs, keine Frage.
                  In den Schulen hat eine angepaßte Form des Laizismus aber auch viele Vorteile. Es ist sehr mühsam in jedem einzelnen Fall wieder von Null an durchdiskutieren zu müssen, warum es nicht erlaubt ist, in Vollverschleierung in die Schule zu kommen, warum die Einrichtung eines muslimischen Gebetsraums nicht in Frage kommt, warum im Turnunterricht keine Kopftücher getragen werden dürfen etc etc

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                  1. Vollverschleierung ist in Frankreich eh verboten, fällt unter das Vermummungsverbot. Ansonsten reicht eine Hausordnung.

                    Das mit den Gebetsräumen ist so eine Sache… (Im „Ewigen Brunnen“ gibt es eine Rubrik „Der Mensch mit seinem Widerspruch“…): in fast allen weiterführenden Schulen Frankreichs gibt es eine aumônerie scolaire. Natürlich römkath. Aber was dem einen gewährt wird, kann dem anderen nicht verwehrt werden… Und: wenn die Schüler in unterrichtsfreien Zeiten einen Gebetsraum aufsuchen wollen: was spricht dagegen?

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                    1. Wirklich ?? Eine aumônerie scolaire wäre natürlich ein heftiger Widerspruch gegen die herrschenden Grundsätze.
                      Dagegen spricht, dass sich die muslimischen Gebetszeiten nicht an den Stundenplänen orientieren. Diese Räume würden also während des Unterrichts aufgesucht werden. Außerdem müsste man dann allen anderen Religionen ebenfalls Räume zur Verfügung stellen. Einerseits gibt es dafür räumlich keine Möglichkeiten und andererseits ist eine Schule doch keine religiöse Einrichtung

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                    2. Je mehr Platz die Schule im Leben der Schüler beansprucht (die französischen Schultage gehören zu den längsten der OECD), um so mehr ist sie verpflichtet, auch Raum für die Ausübung der Religion zu geben – das ist schließlich ein Menschenrecht. Die zu meiner Schulzeit in Deutschland übliche Halbtagsschule erlaubte es zu sagen, zum Beten ist nachmittags auch noch Zeit. Vollzeitschule, die auch noch Verwahranstalt ist wie oftmals in Paris und anderen Großstädten und Ballungsräumen, mit Verweildauer der Kinder von bis zu 13 Stunden täglich, müssen sich der Tatsache stellen, daß die Laïcité à la française nicht unbedingt mit Menschen- und Kinderrechten vereinbar sind. Wie sieht es in Österreich aus? Gilt da auch Ganztagsschule mit Verwahrung vorher und nachher?

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                    3. In Österreich haben wir prinzipiell auch „Halbtagsschule“. Allerdings sind die Stundenpläne in der Oberstufe manchmal sehr heftig und manchmal sind Schüler auch 8,9 Stunden in der Schule. Allerdings ohne die Infrastruktur einer Ganztagsschule: keine lange Mittagspause, kein Essen, keine Pausenräume. Ich finde es nicht so einfach SchülerIn zu sein.

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  3. Hm, also so extrem ist das bei uns nicht, würde ich sagen. ich glaube, das mit der Integration hat bei uns ganz gut funktioniert. In Ausnahmefällen gibt es solche Dinge noch, aber die Mehrheit ist doch eher an westlichen Werten orientiert.

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    1. Ja, ich weiß, dass es in Deutschland viel besser funktioniert. Aber in Österreich sind die Zahlen und der Augenschein erschreckend. Vor allem im Vergleich zu der Einwanderergruppe der Serben und Kroaten, die aus ähnlichen Gesellschaftsschichten kommen.

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  4. Ein Gedanke, der mir da gerade kam: sind wir sooooo viel weiter entwickelt, was das Heiraten angeht? Noch in meiner Generation haben viele junge Frauen vermeintlich freiwillig den Weg in die Ehe gefunden. Ein Großteil meiner ehemaligen Mitschüler hatte geheiratet, kaum jemand ist es noch oder mit dem ersten Partner. Und der häufigste Grund ist der, dass die ‚Lebensschablone‘, die die Eltern vorgelebt haben, ungefragt übernommen wurden – auch um, unbewusst, die Eltern glücklich zu machen. Die meisten Beziehungen, man schätzt je nach Quelle irgendwas zwischen 80 und 95% sind reine Zweckbeziehungen, die uns unser Unterbewusstsein – oder Über-Es – aufdrückt. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schrieb Erich Fromm über die Furcht vor der Freiheit, die uns alle in Unfreiheit gefangen hält. Seine Bücher sind heute aktueller denn je… Ich finde, es macht Sinn, sich solche Dinge wirklich vor dem Hintergrund der Spiegelgesetze anzusehen. Dann könnten wir sogar noch was über uns lernen…

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  5. Zitat:
    „Einerseits gibt es dafür räumlich keine Möglichkeiten und andererseits ist eine Schule doch keine religiöse Einrichtung“

    Genau der Ansicht bin ich.
    Vor allen das eine Schule keine religiöse Einrichtung ist. Es sei denn man lebt in einem Kloster.

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